die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1981
Text # 333
Theater/ Kulturpolitik
Titel Royal Court Theatre/London
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Sendeinfo 1981.04.04/SWF Kultur aktuell/WDR/RB/SR/ORF Wien/SRG Basel 1981.04.04/DLF (teilw.)/Nachdruck: Darmstädter Echo

“Die Gründung der English Stage Company im Royal Court vor 25 Jahren war und bleibt im Hinblick auf die Schaffung eines Forums für neue Bühnenstücke das wichtigste Ereignis der britischen Theatergeschichte“. Mit solchen und ähnlichen Preisgesängen feiert England in diesen Tagen den Geburtstag einer Institution, der wir die Entdeckung fast aller heute international bekannter britischer Bühnenautoren und zahlloser Schauspieler, Regisseure und Bühnenbilderbildner verdanken, die ihrem krisengeschwächten Land den Ruf erhalten haben, wenigstens in einem Bereich, dem des Theaters, noch eine Weltmacht zu sein. Wenn London, wie viele glauben, noch immer der theatralische Nabel der Welt ist, dann verdient das Royal Court, von dem man sagt, es habe die britische Theaterlandschaft stärker geprägt als jedes andere Ereignis nach 1945, wahrscheinlich das Prädikat des “fruchtbarsten und bedeutungreichsten Aufführungsortes neuer Bühnenstücke der westlichen Welt”. Durch die English Stage Company, die das kleine viktorianische Theater am Sloane Square vor einem Vierteljahrhundert bezog, wurde das Royal Court zum Inbegriff eines Stils, der für das moderne Theater in Großbritannien inzwischen fast allgemeinverbindlich geworden ist.

Dies ist umso erstaunlicher, als die Geschichte der English Stage Company sich als Geschichte existenzbedrohlicher Krisen darstellt. George Devine, der verdienstvolle erste künstlerische Leiter der Truppe, eröffnete die neue Ära am 2. April 1956 mit zwei Inszenierungen, die man im Bristol Old Vic bereits getestet hatte. Ihnen folgte am 8. Mai das Werk eines unbekannten jungen Mannes namens John Osborne, der mit ‘Blick zurück im Zorn’ fast über Nacht zum weltbekannten Bühnenautor wurde sowie zum gefeierten Idol einer neuen Jugendbewegung, die gegen den konservativen Geist der älteren Generation und die durch sie vertretene Macht aufbegehrte.

Laurence Olivier war es zu verdanken, daß Osbornes zweites Stück ‘The Entertainer’ als größter Publikumserfolg der ersten Jahre ins Westend weiterwanderte. Beide Stücke wurden verfilmt und füllten die Kassen des zu allen Zeiten mit finanziellen Sorgen geplagten Hauses.

In dem soeben vom Verlag Amber Lane Press veröffentlichten Dokumentationsband ‘At the Royal Court – 25 Years of the English Stage Company’ beschreibt Lindsay Anderson, einer der Regisseure, die im Royal Court debütierten und nach George Devines frühem Tod dessen Nachfolge antraten, am Beispiel der Eröffnungsinszenierung, was es mit dem berühmten Stil des Royal Court auf sich hatte: “Man hatte verstanden daß Stil ein ebenso wichtiges Element der theatralischen Erfahrung ist wie das Thema oder der Inhalt eines Stückes ... Das Spiel der Darsteller war natürlich, gepflegt, zwanglos, die ganze Inszenierung luzid und ökonomisch, das Bühnenbild realistisch, jedoch nicht pedantisch oder übertrieben naturalistisch; elegant und klar hob es sich von einer reinen, weißen Umgebung ab ... Das sollten die Charakteristika dessen werden, was ich den Royal Court Stil nennen würde ... , eine Qualität, die sich viel weniger leicht definieren läßt, als die Leistung im Hinblick auf die Entdeckung neuer Autoren oder Stücke. Ich glaube, es ist auch jene Qualität, deren Verlust man heute am meisten bedauern muß ... Weil wir anti-establishment waren, glaubte man, das Royal Court könne als sozialistisches Theater angesehen werden. Das war weitgehend Unsinn. Es war nicht einmal besonders intellektuell, höchstens liberal, im starken, nicht im verwässerten Sinne des Wortes. Dieses Engagement inspirierte alle Entscheidungen und war die Grundlage für jenen Stil”.

Zu den großen Verdiensten der English Stage Company gehört nicht nur die Entdeckung John Osbornes (welcher sich vom ‘zornigen jungen Mann’ inzwischen zum reaktionären Snob gemausert hat, der keine Gelegenheit ausläßt, die heute maßgeblichen Leute des Royal Court als phantasielose Bande von Nichtskönnern zu schmähen), sondern auch das Verdienst der ersten britischen Aufführungen von Stücken des damals hierzulande kaum bekannten Brecht, die Rezeption des sogenannten absurden Theaters von Beckett, Ionesco und Genet, die Entdeckung der jungen Autoren Arnold Wesker, John Arden, Ann Jellicoe, Harold Pinter, Edward Bond, Joe Orton, David Storey, Christopher Hampton, David Hare, Howard Brenton, Howard Barker und Snoo Wilson so wie viele Schauspieler und Regisseure, die später entscheidende Impulse für die Gründung der Londoner Royal Shakespeare Company und des Nationaltheaters geben sollten. Darsteller von höchstem Rang wie Laurence Olivier, John Gielgud, Ralph Richardson und Paul Scofield gaben zu verstehen, daß die Arbeit im Royal Court Theatre ihnen neue Wege wies oder gar zum späten Wendepunkt ihrer schauspielerischen Karriere wurde. Und schließlich war das Royal Court Wegbereiter dessen, was wir heute als Fringe Theatre kennen: der alternativen Szene.

Seit 25 Jahren gehört es zum Stil des Hauses, ohne Rücksicht auf mögliche Verluste dem Publikum Stücke zuzumuten, an deren Autoren man glaubt. Das konnte nicht immer gutgehen, doch die Risiken lohnten sich. An dieser Politik hat man bis heute festgehalten, obwohl sich in jüngster Zeit die Fehlgriffe zu häufen schienen. Ob dies, wie Edward Bond glaubt, auf den Mangel an bewußtem politischen Engagement zurückzuführen ist, sei dahingestellt. Wie tief die gegenwärtige Krise freilich geht, wird an der Tatsache deutlich, daß uns das Royal Court ausgerechnet zur Jubiläumsfeier mit zwei Premieren beglückt, deren erste, die Uraufführung des Stückes ‘Glasshouses’ von Stephen Lowe im Theatre Upstairs, eine pseudo-realistische Studie auf den Spuren des großen D.H. Lawrence in dessen heimatlichem Milieu Nottingham, wegen seiner unbeschreiblich dilettantischen, todlangweiligen und abscheulichen Inszenierung wenigstens einen der Kritiker nicht mehr erreichte: er ergriff in der Pause die Flucht.

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