die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1971
Text # 369
Ausstellung/ Kulturpolitik
Titel 50 Years of Postcards – 1870 to 1920
Ensemble/Spielort Victoria and Albert Museum/London
Sendeinfo 1971.01.??/BBC German Service/Kulturkaleidoskop

“Es geht ein Hauch von Wonneduft
Durch Blätter, Knosp’ und Blüten:
Ein Wunsch für Dich der aufwärts ruft
Gott mög Dich stets behüten!”

Diese Worte stehen auf einer Postkarte, die meine Großtante Minchen im Jahre 1909 von einer Jugendfreundin erhielt und die – mit zahlreichen anderen Herzensergüssen aus der schönen Zeit der Poesiealben – von Tante Minchen bis zu ihrem späten Tode sorgfältig aufbewahrt und dann den Erben überliefert wurde. Die Sentimentalität, das verkitschte Gemüt, das aus diesen Zeilen spricht, scheint für die Zeit vor und nach der Jahrhundertwende ebenso typisch zu sein wie die Naivität, die die herrlichsten Stilblüten unfreiwilliger Komik trieb. Das aber macht gerade die Dokumente aus jener Zeit so sympathisch und liebenswert, – wie die hinreißend komischen ernsten Gedichte der ‘Schlesischen Nachtigall’ Friederike Kempner, der Großtante Alfred Kerrs, die inzwischen längst in die Literaturgeschichte eingegangen sind.

Eine Fülle solcher Dokumente von Postkarten aus den Jahren 1870 bis1920 versammelt eine Ausstellung, die bis zum Ende dieses Monats im Londoner Victoria & Albert Museum gezeigt wird. Man hat die typischsten und schönsten Exemplare aus fünf größeren Sammlungen ausgewählt und zu einer repräsentativen, erstaunlich vielseitigen Ausstellung vereinigt, die nicht nur einen Überblick gibt über die frühe Geschichte der Postkarte, sondern in vielen Facetten auch ein getreues Spiegelbild der Zeit. Der Besucher dieser Ausstellung erliegt demselben Reiz, der von alten Heften der ‘Gartenlaube’ oder des ‘Simplicissimus’ ausgeht, die uns gelegentlich in die Hände fallen und zu abenteuerlichen Ausflügen in die Jugendtage der Urgroßväter einladen, in eine Zeit, die noch nah genug ist, daß sich zu ihr eine Beziehung herstellen läßt, und von der wir uns doch schon so weit entfernt haben, daß wir sie wie durch die modrigen Spinnweben sehen, die das Land der Kindermärchen umgibt.

Vor etwa 100 Jahren also kamen die ersten Postkarten auf, mit kleinen kolorierten Stichen und den ersten schlechten Fotodrucken. Es sieht so aus, als habe die Idee, mit Bildern, allerlei Sprüchen und vorgedruckten Grußworten versehene Karten anstelle von Briefen zu versenden, in unglaublicher Schnelligkeit die Runde gemacht. Jedenfalls läßt sich heute nicht mehr feststellen, wo es anfing. Sicher ist nur, daß die Begeisterung für die Postkarte bald zur wahren Leidenschaft wurde, das Sammeln und Verschicken von Postkarten zum beliebten Gesellschaftsspiel machte und in kürzester Zeit einen neuen Industriezweig schuf, der heute wie eh und je floriert, – wenngleich das, was die Grußkartenschwemme heutzutage auf den Markt bringt, sich mit den Erzeugnissen der Alten an Phantasie, Witz und Raffinement nicht mehr messen kann. Man muß zwar annehmen, daß die meisten Postkarten auch damals nicht über das Niveau der jetzt so beliebten ‘Susi-Karten’ hinauskamen; und was wir an den alten Bildern und Sinnsprüchen heute so sicher als ‘Postkartenkitsch’ erkennen, weil wir hinter dem Erhabenen das Banale und Lächerliche entdecken, das war auch damals schon so verkitscht-sentimental wie es uns heute erscheint. Doch daneben gab es immer noch eine Fülle wirklich origineller Einfälle, und der künstlerische Wert der von bekannten Malern, Zeichnern und Karikaturisten der Zeit angefertigten Postkartenentwürfe steht außer jedem Zweifel.

Zu den schönsten Stücken der Ausstellung im Victoria & Albert Museum gehören vor allem einige eindrucksvolle Postkartengemälde russischer Maler, sehr dekorative Bildkarten nach Entwürfen verschiedener Künstler des Jugendstils, darunter einige bezaubernd schöne kolorierte Tierzeichnungen sowie zahlreiche satirisch-karikaturistische Darstellungen vom Schlage der besten ‘Simplicissimus’-Blätter. Daneben sieht mein reizvolle Beispiele von Postkarten aus ungewöhnlichen Materialien wie Holz, Löschpapier, Torf, Leder, Aluminium und Zelluloid; Postkarten mit seltsamen Applikationen, kleinen Fächern, Blumensträußen, beweglichen Glasaugen, Pfauen mit echter Pfauenfeder, Tiger mit beweglicher Schwanzspirale und eine Streichholzreibfläche am Hosenboden eines Clowns; Ausziehbilder mit allerlei Überraschungen; Postkarten über die frühen Automobile, Eisenbahnen, Luftschiffe; Fotoporträts von weiblichen Schönheiten, berühmten Personen des öffentlichen Lebens, Fürsten- und Königsbilder; sogenannte ‘unanständige’ Karten mit erschütternd harmlosen Frivolitäten; Bilder aus dem Soldatenleben, daheim und im Felde, mit dem dazu gehörenden Hurra-Patriotismus; Postkartenserien, die sich zu ganzen Wandbildern zusammenfügen lassen; und alle möglichen Arten von humoristischen Karten mit teils mehr, teils weniger witzigen Darstellungen und Bildunterschriften.

Viele Zeichen weisen darauf hin, daß die Postkarte – eine Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts und Mittel der Selbstdarstellung einer Klassenmentalität – eine typisch bürgerliche Erscheinung geblieben ist: die Suche nach Mitteln, soziale Kontakte ohne den geistigen Aufwand des Briefeschreibens zu pflegen; die Schematisierung des Verhaltens in bestimmten vorgegebenen gesellschaftlichen Situationen, also die Entfremdung der zwischenmenschlichen Beziehungen; der schwärmerische Romantizismus und Gefühlsüberschwang, der sich vorfabrizierter Sinnsprüche und Verse als Ausdrucksmittel bedienen muß; die verkitschte Idylle; – daher die Wahl der Motive, die formale Gestaltung, der begrenzt konservative Geist, die Unsicherheit und Borniertheit, aber auch der Stolz, der Leichtsinn, die verspielte Schnörkelhaftigkeit des Bürgertums und die verinnerlichte Poesie seiner Künstler.

Und wenn die Postkarte heute fast nur noch in Form von Ansichts- oder Glückwunschkarten vorkommt, die gewisse Ortschaften und Stadtteile bloß fotografisch abbilden oder unpersönlich formelhafte Grußwortkürzel übermitteln, dann liegt das sicher an unserer veränderten, nun total materialistischen Welt, in der auch der alte, schlecht- oder gutbürgerliche Geist ausgespielt hat.

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