die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1993
Text # 356
Autor Lewis Grassic Gibbon
Theater/ Edinburgh Festival
Titel A Scots Quair
Ensemble/Spielort TAG Theatre Company Glasgow/Edinburgh International Festival
Inszenierung/Regie Tony Graham/Bb. Sally Jacobs
Uraufführung
Sendeinfo 1993.09.02/SDR/NDR/WDR 1993.09.03/DS Kultur

Eine der erfolgreichsten und zugleich populärsten Inszenierungen im offiziellen Programm des diesjährigen Edinburgh International Festival war die Dramatisierung der Romantrilogie ‘A Scots Quair’ von Lewis Grassic Gibbon, vorgestellt von dem Glasgower Schauspielensemble TAG Theatre Company. Die Aufführung der Trilogie wurde zur Entdeckung eines selbst im Süden der britischen Insel kaum bekannten Autors, den die Schotten als modernen Klassiker ihrer Literatur verehren. In Gibbons Romane ist ein Stück schottischer Geschichte eingegangen, die Zeit von der Jahrhundertwende über den Ersten Weltkrieg und die sozialen Turbulenzen der Zwanzigerjahre bis zu der großen Weltwirtschaftskrise, gesehen mit den Augen eines Sozialisten, was hier bedeutet, eines Mannes, der Partei ergreift für die Opfer einer nur zum Schein demokratischen Gesellschaft, die überwunden werden muß, um soziale Gerechtigkeit zu schaffen und den Ausbruch neuer Kriege zu verhindern.

Die Romantrilogie erzählt die Lebensgeschichte des Mädchens Chris Guthrie, das wie sein Autor Lewis Grassic Gibbon in einem kleinen Dorf im Nordosten Schottlands aufwächst. In der Inszenierung des Glasgower Ensembles haben Musik und Lieder eine wichtige Funktion als Formen des Ausdrucks von Gefühlen, die sich in Worten kaum sagen lassen.

Selbst wer Mühe hat, den nordostschottischen Dialekt zu verstehen, spürt die Musikalität der Sprache. Einer der südenglischen Kritiker meinte dazu: “Das Publikum wird eingeladen, Sprache musikalisch zu erfahren. Man braucht kein Wörterbuch: man fühlt, worauf es ankommt, bevor man versteht“.

Der erste Teil der Trilogie zeigt Chris Guthries Kindheit und Jugend im Dorf, den Tod der Eltern, ihre Heirat und den Verlust des Ehemannes, der wie die meisten jungen Burschen des Dorfes in Frankreich fällt. Im Dunkel der Hinterbühne sieht man vier junge Männer in Uniform, die wie durch die Zeitlupe verlangsamt nacheinander vornüber rollen, sich wieder erheben und neu formieren, um wieder und wieder, von Granaten getroffen, zusammenzubrechen.

Im zweiten Teil ist Chris mit ihrem neuen Ehemann, einem Pfarrer, in eine Kleinstadt übersiedelt, wo er die Erfahrung gewinnt, daß fromme Ideale allein die Welt nicht ändern werden, und er sich der Labour Party anschließt. Wieder endet das Stück mit dem Tod des Ehemannes. Im dritten Teil ist Chris mit Ewan, ihrem inzwischen erwachsenen Sohn, bereits in der Großstadt Aberdeen angekommen. Durch Ewans Arbeit in der Stahlfabrik, die brutale Niederschlagung der an Demonstrationen und Streiks beteiligten Arbeiter und – auf der anderen Seite – die Propagandalügen kommunistischer Agitatoren wird deutlich, wie sich der soziale in einen politischen Konflikt verwandelt und verschärft hat.

Die Inszenierung von Tony Graham, in der zwölf Darsteller ein paar Dutzend verschiedene Rollen (und eine Vielzahl von Musikinstrumenten) spielen, wirkt leicht, flüssig und schnörkellos. Sie hat nichts Prätentiöses, versucht nicht, mit weit hergeholten Regiekonzepten Eindruck zu schinden, sondern – wohltuend altmodisch – dem Geist des Originals gerecht zu werden.

Dabei scheint das raffiniert einfache Bühnenbild von Sally Jacobs dem Ensemble entscheidend geholfen zu haben, mit den schwierigen Gegebenheiten der Edinburger Assembly Hall fertig zu werden, wo die Darsteller nach drei Seiten hin von Zuschauern umgeben sind. Von Peter Brook sagt man, seine Größe liege darin, daß er als Regisseur in seinen Inszenierungen unsichtbar bleibe und ganz einfache szenische Lösungen finde. Sally Jacobs , die für einige der berühmtesten Brook-Inszenierungen (unter anderem für seinen ‘Marat/de Sade’ und seinen ‘Sommernachtstraum’) den szenischen Rahmen schuf, hat für den ersten Teil der Trilogie nur einen erdfarbenen Teppich über den leicht gewellten Bühnenboden ausgerollt, der an gepflügte Felder erinnert, und flatternde Seidenbahnen als Himmel aufgehängt, der sich im zweiten und dritten Teil verdunkelt, als wären düstere Wolken aufgezogen. “Es ist die Landschaft, die Ensemblespiel möglich macht”, erklärt Sally Jacobs, “ unendlich variabel. Man stellt zwei Stühle auf in der richtigen Beleuchtung und hat einen intimen Raum in einem Bauernhaus; man öffnet den Lichtraum und ist sofort draußen auf den weiten Hügeln”.

Klare, unaufdringliche Regie; einfache szenische Bewegungen mit fließenden Übergängen; ein unaufdringliches Bühnenbild; Musik und Lieder, die eine eigene Sprache sprechen; sowie ein Team von Darstellern, die sich noch auf die Kunst des Ensemblespiels verstehen – es sind die elementaren Bedingungen einer Theaterarbeit, die sinnvoll erscheint, weil sie ihr Publikum, die Phantasie der Zuschauer noch erreicht und ihnen ein Licht aufstecken kann.

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