die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1980
Text # 323
Ausstellung
Titel Abstraction – Towards A New Art
Ensemble/Spielort Tate Gallery/London
Sendeinfo 980.02.07/SWF Kultur aktuell/SFB/SR/ORF Wien/SRG Basel 1980.02.11/DLF 1980.02.13/WDR 1980.03.01/Darmstädter Echo

“Was konkret ist, das nennen die Leute abstrakt. Ich meine dagegen, ein Bild oder eine Skulptur ohne gegenständliches Modell sind so konkret und sinnlich wie ein Blatt oder ein Stein“. Diese Bemerkung von Hans Arp drückt das Unbehagen aus an einem mißverständlichen Begriff, der sich heute jedoch weitgehend durchgesetzt hat. Mißverstanden wird daran: ‘Abstraktion’ ist keine neue Stilart der Bildenden Kunst, sondern (nach den Worten Delaunays) “eine Veränderung im Verständnis”.

Künstler wie Picasso, Kandinsky, Dealunay, Mondrian, Malevich, Arp sind stilistisch weit voneinander entfernt. Was sie verbindet, ist der Versuch, im Unterschied zu einer jahrhundertealten Tradition nicht die äußere Erscheinung der Dinge, sondern ihr inneres Wesen zu gestalten. Sie gehen aus von der Erkenntnis, daß Farben und Formen eigenständige Bedeutung zukommt, so daß die Frage der Ähnlichkeit mit realen Erscheinungsformen irrelevant wird. Der Begriff ‘abstrakte Kunst’ bezieht sich demnach auf eine Revolution der Sehweise, die vom Ausdruck subjektiver Anschauung wegstrebt und nach einer hinter der Oberfläche der Dinge verborgenen Wahrheit sucht.

Die unter demTitel ‘Abstraction – Towards A New Art’ in der Tate Gallery London eröffnete Ausstellung gibt einen Überblick über die erste Entwicklungsphase auf dem Weg zur ungegenständlichen, sogenannten reinen Malerei und versucht zu zeigen, wie eine Reihe von Künstlern in den Jahren 1908 bis1921 in verschiedenen Ländern Europas, in Frankreich, Holland, Deutschland, Rußland, Italien, in der Schweiz, in England und in den USA oft unabhängig voneinander sich allmählich ein neues Vokabularium des bildnerischen Ausdrucks schuf.

Die Ausstellung ist geographisch gegliedert. Man betritt sie (geradezu symbolhaft) durch einen Vorraum, der den Pariser Kubisten gewidmet ist, die durch die Erfindung der mobilen Perspektive den entscheidenden Anstoß gaben, wenngleich die Kubisten selbst, auch da, wo die Bilder ihr Modell nicht mehr erkennen lassen, noch auf der Darstellung der äußeren Erscheinung bestanden. Die Gemälde Picassos, Braques und Gris’ zeigen jedoch eine neue visuelle Sprache, die die Unabhängigkeit des Artefakts von der Natur der realen Dinge demonstriert, ein Gesichtspunkt, der die Arbeit der europäischen Künstler im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wesentlich beeinflußt zu haben scheint.

Im Mittelpunkt der Ausstellung sehen wir Werke der Pariser Maler Delaunay, Léger, Picabia und vor allem Kupka. Der lange Zeit in seiner Bedeutung unterschätzte tschechische Maler Frantiśek Kupka ist mit sechzehn Bildern vertreten, die die Vielseitigkeit des Künstlers belegen und ihn als einen der großen Bahnbrecher der abstrakten Malerei erscheinen lassen. Besonders eindrucksvoll ist die Serie von Entwürfen, die im Jahre 1908 nach dem Gemälde ‘Kleines Mädchen mit Ball’ entstand, wobei Kupka die Bewegungen des mit dem Ball spielenden Mädchens in dynamischen Linien darzustellen versucht. Ebenso die verblüffend konsequente Entwicklung der formalen Elemente des weitgehend gegenständlichen Bildes ‘Pianotasten’ von 1909 bis zu der abstrakten Komposition ‘Vertikale Ebenen’ von 1912.

Der Gedanke, den Prozeß der – teils vom Gegenständlichen abgeleiteten, teils als bewußte Antithese zur gegenständlichen Abbildung gesetzten – Abstraktion in Bildserien der Künstler zu zeigen, macht den Gang durch die Räume der Tate Gallery zum besonderen Erlebnis. Die erstaunlich verschiedenartigen Arbeiten von Piet Mondrian wirken wie systematische Versuchsreihen, die von der gegenständlichen Darstellung von Dünenlandschaften, Bäumen und Gebäuden zielstrebig zur Entwicklung der Horizontal-Vertikal-Raster und von da zu der auf die Primärfarben reduzierte geometrische Raumaufteilung der späteren Schaffensperiode führen.

Unter den Deutschen haben die Maler Kandinsky, Marc, Macke, Klee (von dem man sich hier freilich eine größere Auswahl von Werken gewünscht hätte), Hoelzel und Itten den Vorrang. Bei den zahlreichen Arbeiten russischer Künstler teilt sich vor allem die Kühnheit und Radikalität der Bilder Kasimir Malevichs mit, der neben Kupka, Kandinsky und Mondrian als erfindungsreichster Pionier der Bewegung angesehen werden muß, einer Bewegung, die insgesamt als bedeutendster Beitrag zur bildenden Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts Geltung behalten dürfte. (Die Ausstellung läuft bis zum 13. April).

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