die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1992
Text # 275
Theater
Titel The Oracle
Ensemble/Spielort Station House Opera/Institute of Contemporary Art (ICA)/London
Sendeinfo 1992.12.03/SWF Kultur aktuell/RIAS/DS Kultur 1992.12.04/WDR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Es gab eine Zeit, da durfte man guten Gewissens sagen, das britische Theater sei so lebendig und gesund, wie man sich’s wünschen könne, und London noch die Theaterhauptstadt der Welt. Neben den berühmten Großunternehmen und den vielen kommerziellen Betrieben gab es Anfang der siebziger und bis in die achtziger Jahre hinein in London eine schier unübersehbare Vielzahl kleiner und kleinster Truppen, von deren Existenz man in manchen Fällen kaum etwas wußte und die doch insgesamt im englischen Theaterleben eine wichtige Rolle spielten. Wenn auch beileibe nicht alle freien Truppen als Experimentiertheater gelten konnten oder überhaupt Bemerkenswertes zustande brachten, gab es doch noch jene künstlerische Avantgarde, die mehr oder weniger bewußt nach neuen Darstellungstechniken und zeitgemäßeren Formen des Theaters suchte und so indirekt auch auf die Arbeit der etablierten Bühnen Einfluß nehmen konnte.

Die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre hat leider dazu geführt, daß es heute in England so gut wie keine experimentellen Theatertruppen mehr gibt. In einer Situation, in der sich nahezu alles am Geld orientiert, wo nur noch Publikumserfolg und Umsätze zählen, muß, wer davon leben will, sich mit Gewinn verkaufen können. Doch künstlerische Experimente, die qua definitione auch manchmal mißlingen, sind noch nie Publikumsrenner gewesen und darum auf eine Förderung angewiesen, die heute kaum noch gewährt wird.

Das Londoner Institut für zeitgenössische Kunst (ICA) ist in diesem Zusammenhang eine rühmliche Ausnahme, weil es die ihm zur Verfügung gestellten staatlichen Subventionen ganz gezielt für Projekte der Avantgarde in den Bereichen Bildende Kunst und Theater einsetzt.

Das vor zwölf Jahren gegründete Ensemble Station House Opera ist eine der wenigen wirklich noch experimentellen Theatertruppen in Großbritannien, die die seit Jahren schwelende nationale Krise überlebt haben und sich auch im Ausland einen Namen machen konnten. Station House Opera wurde vor allem bekannt durch ihre architektonischen Experimente mit Tuffsteingebilden. Das spektakulärste Projekt dieser Art hieß ‘Die Bastille tanzt’, kam heraus zur Zweihundertjahrffeier der Französischen Revolution und war eine vier Stockwerke hohe, über mehrere Tage und Nächte erbaute, sich ständig verändernde architektonische Skulptur.

Die neue Inszenierung von Station House Opera nennt sich ‘Das Orakel’ und wurde im Rahmen einer Reihe ‘Neues britisches Theater’ im Londoner Institut für zeitgenössische Kunst erstmals vorgestellt.

Wenn der Zuschauer das Theater betritt, blickt er auf eine phantastische Landschaft aus silberglänzenden stählernen Tuben und Rohren, die auf kunstvolle Weise verschlungen sind und wie die Eingeweide eines technischen Ungeheuers erscheinen. Menschen treten auf, kriechen aus Tonnen oder fallen aus Stahlzylindern, die von der Decke herunter hängen. Einige geben sich daran, aus grauen Kunststoffröhren, wie man sie für Wasserleitungen verwendet, möbelartige Gebilde zu bauen. Andere stecken die Röhren zu komplexen Leitungssystemen zusammen. Die nicht unmittelbar mit dem Bau der Rohrleitungen Befaßten werden immer mehr eingekreist und, meist widerstrebend, in das System eingebunden.

Dies alles geschieht wortlos, begleitet von leisen Donner- und Brummgeräuschen, die aus den Tiefen der Erde zu kommen scheinen. Hin und wieder hören wir Fetzen von Musik und Sprache, die aus den trichterförmigen Ausgängen der in die käfigartigen Gehäuse der Menschen geführten Rohrleitungen dringen. Die Hörer, auf die sie gerichtet sind, können sich dem akustischen Terror, der auf sie eindringt, offenbar nicht widersetzen. Einige wickeln sich wie Süchtige in ganze Bündel von Leitungen, die wie Polypen auf ihnen sitzen oder wie eine Geliebte verzückt in den Armen gehalten werden. Andere winden sich in schrecklichen Albträumen auf ihrem Röhrenbett, bis es auf groteske Weise auseinanderfällt.

Die anfangs kaum hörbaren Klänge werden immer lauter und aufdringlicher, stoßen bis in die letzten Winkel der nun total verkabelten Behausungen vor und schwellen schließlich an zum akustischen Orkan, der wie eine große Woge über die Menschheit schwappt und alles unter sich begräbt. Erst dann wieder Stille.

Im Unterschied zur verschlüsselten Rede des Orakels von Delphi ist die uns hier übermittelte Botschaft so klar, daß die Inszenierung, die auf sprachliche Mittel fast völlig verzichtet, auch keiner verbalen Interpretation bedarf. Besonders eindrucksvoll ist das mit den Augen Wahrnehmbare; während man der Aufführung des Projekts, das sich doch gerade mit der akustischen Reizüberflutung und Indoktrination durch die Medien auseinandersetzt, nicht die Kritik ersparen kann, die hörbaren Elemente zu diffus präsentiert und die sich anbietenden auditiven Möglichkeiten kaum genutzt zu haben.

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