die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1990
Text # 337
Autor Max Ernst
Ausstellung
Titel Max Ernst – A Retrospective
Ensemble/Spielort Tate Gallery/London
Sendeinfo 1991.02.14/SWF Kultur aktuell/WDR/DS Kultur

Lfd. Nr. 337 002/Max Ernst 003/Max Ernst – A Retrospective 004/1991.02.14/SWF Kultur aktuell/WDR/DS Kultur 005/Tate Gallery/London 013/Ausstellung/Retrospektive

Alternatives Universum Max-Ernst-Retrospektive in der Tate Gallery London

Anläßlich des 100. Geburtstages von Max Ernst zeigt die Londoner Tate Gallery die bislang wohl umfangreichste Ausstellung von Werken des am 2. April 1891 in Brühl bei Köln geborenen und am 1. April 1976 in Paris verstorbenen Künstlers. Der deutsche Kunstwissenschaftler Werner Spies hat annähernd zweihundertfünfzig Arbeiten von Ernst aus allen Schaffensperioden ausgewählt. Es ist ein gemeinsames Projekt der Londoner Tate Gallery, der Staatsgalerie Stuttgart und der Kunstsammlung Düsseldorf. Die Ausstellung wird bis zum 21. April in London bleiben und soll anschließend in Stuttgart und Düsseldorf und Ende des Jahres auch im Centre Pompidou in Paris gezeigt werden.

Max Ernst gilt heute als einer der einflußreichsten Künstlerpersönlichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts. Die große Retrospektive ist eine Gelegenheit, die Bedeutung Max Ernsts für die bildende Kunst dieses Jahrhunderts aufs Neue zu überprüfen. Wobei es zunächst einmal darauf ankäme festzustellen, wie wir uns dem Werk eines Künstlers nähern können oder sollten, das (abgesehen von Ernsts schriftlichen Äußerungen) so gut wie keine Verständnishilfen gibt und jeden Versuch einer rationalen Interpretation verhindern zu wollen scheint. Die außerordentliche Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Inhalte – der Motive, Themen und Gegenstände – sowie der Darstellungsformen – der Methoden und Techniken bildnerischer Gestaltung – wirkt verwirrend, rätselhaft und unverständlich, zumal die meisten Bilder dem natürlichen Wunsch des Betrachters nach harmonischen Konfigurationen, erkennbaren Zusammenhängen oder Kompositionsprinzipien entgegen zu arbeiten scheinen.

Da ist also zunächst die verwirrende Fülle der dargestellten Objekte: scheinbar sinnlos zusammengefügte Maschinenteile und anderes technisches Gerät; aufgebrochene menschliche Körper; die absurde Kombination disparater Figuren und heterogener Materialien; phantastische Fabelwesen halb menschlicher, halb tierischer Ercheinung; monströse oder kuriose Vogelgestalten; nackte oder halbnackte Frauenkörper und andere erotische Symbole; erstarrte oder zerfließende Landschaften, versteinerte Bäume und Felder, ausgestorbene Städte; üppig wuchernde, von vegetabilisch-animalischen Geistern bewohnte Dschungelparadiese; herrlich verspielte, ironisch-witzige oder phantastisch absurde Bildgeschichten; und düster-bedrohlich wirkende apokalyptische Albtraumvisionen.

Zur Vielfalt der Themen und Motive kommt die erstaunliche Vielzahl der Darstellungstechniken. Die nach dem Ersten Weltkrieg von Theodor Baargeld, Hans Arp und Max Ernst gegründete Kölner Dada-Gruppe hatte die radikale Abkehr von allen künstlerischen Strömungen der Zeit propagiert und mit den Techniken Fotomontage und Collage neue Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks entdeckt, die Ernst in den folgenden Jahren weiterentwickelte. Dabei war er bemüht, durch mehrfache fotografische Reproduktion und Überarbeitung die einzelnen Elemente so zu verschweißen, daß das Herstellungsverfahren nicht durchschaut werden konnte und bildanalytische Interpretationsversuche vereitelt wurden.

Werner Spies, dem wir auch die Redaktion des fast vierhundert Seiten starken Katalogs und den darin abgedruckten ausführlichen Einführungstext zum Verständnis der Arbeiten Max Ernsts verdanken, weist darauf hin, daß das, was uns am einzelnen Bild so geheimnisvoll und unzugänglich erscheint, sich nur aus dem Zusammenhang aller Arbeiten von Max Ernst und der ihnen zugrunde liegenden zentralen Motive erklären lasse.

Max Ernst verstand seine Arbeit als “Entdeckungsreisen ins Unbewußte”. Es komme darauf an, “Fundgegenstände ans Tageslicht zu fördern“. Alle Anregung zu künstlerischer Arbeit ergehe von außen. Die durch Zufall entdeckten Materialien oder Ausschnitte alter Bilddrucke, die auf Papier durchgedrückten Strukturen von Gegenständen (gemasertem Holz, Blättern, Geweben etc.), der unterschiedliche Abrieb von Farbschichten oder die zufälligen Muster verlaufender Farbkleckse setzen die Phantasie des Künstlers in Gang, die unter den Ablagerungen seines individuellen oder kollektiven Unbewußten homologe Gebilde gleichsam wiederfindet und sichtbar werden läßt.

“Können heißt Gestaltenkönnen“, schrieb Max Ernst in einem bereits 1912 veröffentlichten Text. “Können setzt voraus, daß man das innere Leben der Linie und der Farbe empfinden kann. (Linie und Farbe auch losgelöst vom Gegenstand. Absolute Malerei im Sinne der Absoluten Musik)”.

Was da, ausgelöst von äußeren Impulsen, aus den Tiefen des Unbewußten nach oben drängt und vom Künstler, durch Intuition und Können kontrolliert weiterverarbeitet wird, ist den Traumbildern verwandt, die sich im einzelnen rational nicht erklären lassen. Wie Werner Spieß andeutet, läßt sich bei aller Verschiedenartigkeit der Stoffe und Darstellungsweisen, der Vielfalt der Themen und ihrer formalen Gestaltung, in den Werken Max Ernst eine “Syntax” erkennen, die sie stilistisch eint. Auch wenn das einzelne Bild sich rationalen Interpretationsversuchen widersetzt, scheint doch aus dem Stimmengewirr der Versammlung so vieler Bilder von Max Ernst sich etwas vom Grundgefühl der historischen Erfahrung zu übertragen, die der Künstler mit den sensibleren seiner Zeitgenossen teilt: die Erfahrung einer zutiefst bedrohten, zerrissenen Welt; die Vision eines alternativen Universums, in welchem das kausale Denken abgedankt hat; ein Verständnis von Naturgeschichte, “die ohne den Menschen begann und ohne ihn enden wird“.

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