die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1997
Text # 289
Autor David Hare
Theater
Titel Amy’s View
Ensemble/Spielort National Theatre/London
Inszenierung/Regie Richard Eyre
Hauptdarsteller Judi Dench
Uraufführung
Sendeinfo 1997.06.23/SWF Kultur aktuell/WDR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Anfang der siebziger Jahre erklärte der damals noch jugendliche David Hare in einem Interview, wenn die meisten der ‘Gebildeten’ davon überzeugt seien, daß wir in einer dekadenten Gesellschaft leben, dann habe ein Autor die Verpflichtung, dem auf den Grund zu gehen. “Über anderes zu schreiben, wäre bloße Spielerei“.

Fast alle seine Arbeiten – und inzwischen hat David Hare gut anderthalb Dutzend Theaterstücke und eine Reihe erfolgreicher Filme und Fernsehfilme geschrieben – sind denn auch den großen gesellschaftspolitischen Themen gewidmet: dem Chauvinismus des Mannes gegenüber der Frau, der Korruption unter Politikern und den Vertretern des Großkapitals, dem Verfall moralischer Werte, dem Konflikt zwischen Arm und Reich oder dem Mißbrauch der Macht der Medien.

Als Anfang der Neunzigerjahre Hares dramatische Trilogie über die drei Säulen der britischen Gesellschaft – Kirche, Gerichtsbarkeit und Politik – am Londoner Nationaltheater herauskam, schrieb die Zeitung ‘The Times’: “Welcher andere Theaterautor würde sich daran geben zu untersuchen, wie unser Land funktioniert, und wer täte es auf so entschiedene, systematische Weise?”.

Im Programmheft zur Uraufführung seines neuen Stückes ‘Amy’s View’ (wörtlich ‘Amys Ansicht’) weist Hare daraufhin, daß er nun schon fünfundzwanzig Jahre dem Nationaltheater verbunden sei und dieser Verbindung beruflich die stärksten und wichtigsten Impulse verdanke. Der Text liest sich wie ein Versuch der Rechtfertigung, daß “ein Stückeschreiber mit so klarem politischen Engagement es fertig bringe, in einem solchen Establishment-Theater zu arbeiten”.

Es wäre verwunderlich, wenn die Tatsache, daß der inzwischen 50-jährige Autor sich längst selbst zum Establishment rechnen muß, für seine Arbeit keinerlei Folgen gehabt hätte. Sein neues Stück könnte darauf schließen lassen, daß Hare begonnen hat, sich von der Auseinandersetzung mit großen politischen Sachverhalten zurückzuziehen und sich stattdessen der Darstellung eher privater Konflikte zu widmen.

‘Amy’s View’ beschreibt über einen Zeitraum von achtzehn Jahren ein schwieriges Mutter-Tochter-Verhältnis. Esme, eine erfolgreiche Schauspielerin, kehrt nach ihrer Vorstellung in London spät am Abend in ihr Landhaus in Berkshire zurück, wo ihre Tochter Amy und ihr Freund Dominic auf sie warten. Am Ende des ersten Aktes wissen wir, daß Amy schwanger ist, dies aber zunächst noch geheim halten möchte, um ihre Verbindung zu Dominic nicht zu gefährden. Esme empfindet Amys Bindung an den Freund als Bedrohung. Verächtlich nimmt sie zur Kenntnis, daß er keinen Sinn fürs Theater hat und stattdessen an die neuen Medien Film und Fernsehen glaubt. Um den Bruch der Verbindung zu provozieren, gibt sie Amys Geheimnis preis.

Im zweiten Akt sind inzwischen sechs Jahre vergangen. Amy und Dominic sind zusammen geblieben und haben zwei Kinder. Dominic ist Moderator eines erfolgreichen Fernsehprogramms. Amy hat ihn überredet, die Mutter darin auftreten zu lassen. Denn die Situation am Theater hat sich drastisch verändert und Esme ist schon seit Jahren auf keiner Bühne mehr gewesen. Wegen ihrer Geringschätzung für Dominics Arbeit und seinen Erfolg kommt es zum offenen Konflikt. Amys Ansicht, daß man versuchen müsste, miteinander auszukommen, daß Liebe alle Barrieren überwindet, wird von der Mutter nicht geteilt.

Weitere acht Jahre später ist Amys Ehe am Ende. Die Mutter hat sich verführen lassen, ihr ganzes Vermögen so riskant anzulegen, daß alles dabei verloren ging. Da sie unbegrenzt haftet, wird sie zeitlebens alle weiteren Verdienste abführen müssen. Die persönliche Katastrophe scheint künstlerisch heilsame Folgen zu haben. Esme spielt wieder Theater und wirkt in ihren Rollen reifer und wahrhaftiger als je zuvor. Dominic, inzwischen ein bekannter Filmregisseur und in zweiter Ehe glücklich verheiratet, sucht Esme in ihrer Garderobe auf. Wir erfahren, daß Amy an einem Hirnschlag verstorben ist. Weil sie sich gewünscht hätte, daß ihre Mutter und Dominic irgendwann zueinander finden, versucht er, Frieden zu machen – und scheitert dabei an Esmes Kälte und Unversöhnlichkeit.

Wie in allen seinen späteren Stücken ist es David Hare auch hier wieder gelungen, komplexe, widerspruchsvolle und darum glaubhafte Charaktere zu erfinden und mit erstaunlicher Behutsamkeit und Intelligenz ihre konfliktreiche Beziehung zueinander auszuleuchten. Statt der großen politischen Themen geht es diesmal fast nur um Privat-Persönliches sowie um die Frage, ob das Theater unter den von der technologischen Revolution geschaffenen Bedingungen überhaupt noch eine Chance hat und noch ernst genommen zu werden verdient.

Die sehenswerte Inszenierung des im Herbst dieses Jahres scheidenden Nationaltheaterintendanten Richard Eyre mit Dame Judi Dench in der Rolle der alternden Schauspielerin, eine Rolle, die ihr auf den Leib geschrieben zu sein schien, konnte als eine Antwort auf diese Frage verstanden werden.

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