die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1991
Text # 267
Theater
Titel Ansar
Ensemble/Spielort Al-Masrah Jerusalem/Institute of Contemporary Art (ICA)/London
Sendeinfo 1991.11.04/BR/DS Kultur/RIAS/SRG Basel 1991.11.05/SWF Kultur aktuell (Nachdruck ‘Darmstädter Echo’ abgelehnt = politische Selbstzensur!)

Der Beginn der Gespräche um das, was wir Frieden im Mittleren Osten nennen und vor allem das Schicksal der Palästinenser betrifft, gibt dem ersten Auftritt einer neuen Palästinenser Theatertruppe in Westeuropa den aktuellen Bezugspunkt, den wir so oft als Vorwand brauchen, um einem Ereignis die Aufmerksamkeit zu schenken, die es verdient.

Wie die Konferenz in Madrid selbst zum Anlaß geworden ist, uns der historischen Vorgänge zu erinnern, der politischen und militärischen Akte, die die heutigen Machtverhältnisse in Palästina geschaffen haben, so gibt das Londoner Gastspiel der Theatertruppe aus dem besetzten Ost-Jerusalem Gelegenheit, am Schicksal junger Palästinenser zu begreifen, was es bedeutet, seit vierundzwanzig Jahren unter der Willkür einer Besatzungsmacht, die Entscheidungen der Vereinten Nationen wie die Meinung der Weltöffentlichkeit arrogant ignoriert, überleben zu müssen.

Der einzigen, auch international bekannt gewordenen Palästinenser Theatertruppe El-Hakawati ist es zu verdanken, daß im Mai 1984 in Ost-Jerusalem das erste palästinensische Kulturzentrum Al-Masrah gegründet wurde. Trotz der permanenten Probleme mit der israelischen Zensur, mit wiederholten Hausdurchsuchungen, mehrfacher Schließung und Inhaftierung von Künstlern, hat sich das Kulturzentrum Al-Masrah ohne öffentliche Mittel bis heute am Leben erhalten können.

Das im Theater des Londoner Instituts für zeitgenössische Kunst vorgestellte Szenarium mit dem Titel ‘Ansar’ basiert auf den Erfahrungen eines der Darsteller, der sechs Monate in einem der berüchtigten Internierungslager verbringen mußte, in denen die Israelis junge Palästinenser, die bei einer der vielen Razzien verhaftet wurden, ohne Gerichtsverhandlung und Urteil auf unbestimmte Zeit gefangen halten. Nach dem skizzierten Erfahrungsbericht des Schauspielers Nidal Khatib wurde das Stück von Darstellern und Regisseur gemeinsam entwickelt.

‘Ansar’ ist eine Folge kurzer Szenen, die uns eine Vorstellung geben sollen von den Leiden zweier junger Männer, die in einem in der Wüste Negev eingerichteten Lager monatelang unter primitivsten Verhältnissen ohne Kontakt zur Außenwelt, von ihren Bewachern immer wieder verhört und zusammengeschlagen, bei erbärmlicher Ernährung, körperlich und seelisch geschunden in glühender Sonne schmachten müssen. Die täglichen Schikanen und Demütigungen, der militärische Drill, die strenge Bestrafung für kleinste Vergehen – all das soll dazu dienen, jeden inneren Widerstand und das Selbstbewußtsein der Opfer zu brechen.

Auf der fast leeren Bühne – ein paar graue Dreiecke als Andeutung der Zelte vor der Projektion eines hohen Drahtzaunes, über dem die Sonne grell und bedrohlich im blauen Himmel hängt – zeigen die Darsteller kleine Ausschnitte aus dem Alltag der Gefangenen, ihre Angst- und Wunschträume, die Sehnsucht nach Eltern und Geschwistern, ihre Verzweiflung und ihren Zorn gegen das Unrecht, das ihnen angetan wird von Menschen, die aus der Geschichte gelernt haben sollten, was es bedeutet, bedroht, mißhandelt, verfolgt zu sein, doch die in einem perversen Rollenwechsel von Unterdrückten zu Unterdrückern geworden sind, die für ihre Opfer keine Gnade kennen.

Es fällt mir schwer, die Inszenierung, die mit den einfachsten Mitteln arbeitet und aus der echten Armut und Not, die das Theater zur äußersten Sparsamkeit zwingt, eine Tugend zu machen versucht, als künstlerisch leichtgewichtig abzutun, ohne anzumerken, daß die Einfachheit und Naivität der Darstellung das Geschehen, die Tragödie des palästinensischen Volkes, nur umso trauriger erscheinen läßt.

Der Titel bezieht sich auf das militärische Internierungslager Ansar 3, das die dort inhaftierten Palästinenser “Lager des langsamen Todes” nennen. Die Aufführung ist den jungen Männern gewidmet, die darin gefangen gehalten werden.

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