Ich werde nie vergessen, wie ich im Hof der alten Edinburger Universität bei Sturm und wolkenbruchartigen Regen, der die offene Bühne immer wieder in einen See zu verwandeln drohte, zum ersten Mal Yukio Ninagawas Inszenierung der ‘Medea’ sah. Es war eine der Sternstunden des Theaters. Mit Mikojiro Hira in der Titelrolle wurde es eine der stärksten Theatereindrücke meines Lebens: Regisseur Yukio Ninagawa und Schauspieler Mikojiro Hira setzten Maßstäbe für das Theater von morgen.
Die freudige Nachricht, daß Ninagawas Ensemble nach Britannien mit ‘Macbeth’ und ‘Medea’ zurückkehren und im Londoner Nationaltheater auftreten werde, wurde getrübt, als zwei Wochen vor der Premiere die Meldung kam, daß Mikojiro Hira wegen einer Operation, der er sich unterziehen mußte, diesmal nicht dabei sein könne; die Hauptrollen beider Stücke seien umbesetzt worden. Es spricht für die erstaunliche Stärke und künstlerische Qualität der Inszenierungen, daß der Ausfall des japanischen Schauspielerstars zwar die Darstellung um jene bewunderte Virtuosität und magnetische Ausstrahlung des Unersetzbaren ärmer erscheinen ließ, den Inszenierungen selbst aber kaum etwas von ihrer faszinierenden Wirkung nahm.
Wie im antiken Griechenland und im alten japanischen Noh- und Kabuki-Theater, läßt Ninagawa die Rachetragödie der betrogenen Frau von einem reinen Männerensemble spielen. Tokusaburo Arashi ist der einzige Schauspieler der Truppe, der für das Kabuki-Theater ausgebildet wurde und sich dort auf die Darstellung von Frauenrollen spezialisierte. Seine Medea wirkt im Vergleich weniger majestätisch stolz und furchterregend bedrohlich, doch ebenso erschütternd im differenzierten Ausdruck des Schmerzes und der Verzweiflung, die sie das Ungeheuerliche, die Ermordung der eigenen Kinder, planen und ausführen läßt.
Was von der Poesie der Japaner gesagt worden ist, gilt auch für die Theaterarbeit Yukio Ninagawas: Ihr Geheimnis liegt in der Intensität und Konzentration des Ausdrucks und in der Erfindung verblüffend einfacher Lösungen.
Die Führung des Chores, der in Aufführungen antiker Dramen meist steif herumsteht und als recht überflüssig empfunden wird, ist hier von atemberaubender Wirkung. Der Chor spielt die Rolle des idealen Zuschauers, der in allen entscheidenden Augenblicken gestisch und stimmlich auf das Geschehen reagiert und durch Stellung, Haltung und Bewegung alle Gefühle und Stimmungen spiegelt – getragenen Schrittes meditierend in kreuzförmig sich verschränkenden Gängen, zur Menschenwand sich formierend, die sich wie ein Rad um die eigene Achse dreht, sich zu Boden werfend oder zur Pyramide aufgetürmt, in Gruppen auseinanderbrechend oder in Augenblicken höchster Erregung, mit tiefen Lauten des Entsetzens in kunstvoll verwobenen Mustern wie aufgescheuchte Vögel über die Bühne flatternd.
Unvergeßlich der erste Auftritt der ganz in Weiß gekleideten Kinder, die spielerisch selbstvergessen einen Spiegeltanz proben, während die Älteren schon das nahende Unheil ahnen; oder der Augenblick, wenn Medea, von Jason verstoßen und von König Kreon verbannt, auf Rache sinnt und ein endlos erscheinendes rotes Band langsam aus ihrem Munde zieht; der herzzerreißende Abschied von den Söhnen; der Schmerzensschrei, wenn sie herausgeführt worden sind; die angsterfüllten Rufe der Kinder; die Panik des Chores; und schließlich Medeas spektakuläre Flucht in Helios’ Wolkenwagen.
Es ist eine Aufführung von wunderbarer Klarheit, Strenge und Konsequenz, gestischesTheater, das die szenischen Vorgänge aufs Äußerste konzentriert und verdichtet und so eine Intensität des Ausdrucks erreicht, die vollkommen kontrolliert, ganz und gar Form geworden ist und doch ganz ungezwungen und einfach erscheint.