die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1977
Text # 107
Autor Tony Bicat
Theater
Titel Devil’s Island
Ensemble/Spielort Joint Stock Company/Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie David Hare
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1977.02.26/SWF Kultur aktuell 1977.03.03/DLF/Nachdruck: Darmstädter Echo

Das Royal Court Theatre versucht seine finanzielle Krise, die kürzlich zum Ausscheiden der beiden künstlerischen Direktoren führte, mit einer Reihe von Gastspielen zu überbrücken, die den prominentesten Gruppen im Bereich des sogenannten alternativen Theaters die Möglichkeit geben, ihre Arbeit einem größeren Londoner Publikum bekanntzumachen. Der noch vor dem Wechsel der Intendanz arrangierte Auftritt der formidablen Pip Simmons Theatre Group, die sich zur Vorstellung ihrer (in diesem Fall leider mißglückten) Dracula-Show verleiten ließ, wird so im Nachhinein zum Auftakt der Reihe, die mit ‘Devil’s Island’ von Tony Bicat in einer Inszenierung der Joint Stock Company in diesen Tagen bereits ihren ersten Höhepunkt erreicht.

Das Stück wurde im vergangenen Sommer in Werkstattgesprächen und Improvisationen der Gruppe entwickelt und anschließend von Bicat niedergeschrieben. Es ist die apokalyptische Vision vom Untergang einer Insel, deren letzte Überlebende schließlich, halb wahnsinnig und vertiert, in bunkerartigen Verliesen auf das Ende warten. Bruchstückhafte Szenen, Mono- und Dialoge fügen sich wie beim Bilderpuzzle allmählich zur Botschaft des Weltuntergangs. Es ist der Grabgesang auf Britannien, den bürgerlichen Mittelstand, das kapitalistische Abendland.

Die drei Akte des Stückes, die ohne Pause ineinander übergehen, beleuchten drei Phasen des Niedergangs, markiert durch die Jahresziffern 1937, 1977 und 1997. Auf jeder Station begegnen wir sechs Personen, drei Frauen und drei Männer, deren Namen sich im Verlauf des Stückes nicht ändern, obwohl es sich immer wieder um andere Personen handelt, die sich charakterlich und durch ihr Verhältnis zu den übrigen ähnlich sind, Repräsentanten ihrer Klasse in den verschiedenen Phasen der Entwicklung, die hier wie aus Momentaufnahmen einer Tele-Kamera zusammengesetzt wirken, welche aus großer Entfernung winzige Ausschnitte des jeweiligen Zustands registriert hat.

Im ersten Teil finden wir Hugh als im spanischen Bürgerkrieg erblindeter Schriftsteller, der auf der Seite der Anarchisten kämpfte, doch nun von Kutchewski, einem russischen Agenten, für kommunistische Propagandazwecke gewonnen werden soll; Betty, als wohlhabende Dame der feinen Gesellschaft; Bill als intellektueller Playboy mit faschistoiden Ansichten, und seine Frau Sue; sowie ihre Schwester Jill, die mit linken Ideen flirtet. Man konversiert gebildet, politisiert bei Dinner-Parties ins Blaue, redet und redet, während Europa sich auf den Zweiten Weltkrieg rüstet.

Der zweite Teil zeigt die Welt der Kapitalspekulanten, ihre erpresserischen Praktiken beim Ankauf von Firmen und Kapitalanteilen.”Es wimmelt von Selbstmorden im mittleren Management”, heißt es lakonisch, nachdem sich Bill mit seiner ganzen Familie erschossen hat. Die philanthrope Betty schickt sich an, auf eine entlegene Insel auszuwandern, wo sie den Eingeborenen zur Wiederbelebung der heimischen Gebrauchskunst verhelfen möchte.

Der letzte Akt des Stückes beschreibt die Endstation der Katastrophe. Die Menschen leben wieder wie Troglodyten, blind asozial, in permanenter Angst vor den anderen, vor den ‘Haien’ und vor dem Tod, der sie von der Sinnlosigkeit ihres Daseins erlösen wird.

Tony Bicats ‘Teufelsinsel’ ist die politische Vision eines jüngsten Tages, vorstellbar als Untergang einer Gesellschaftsform, die sich überlebt hat und mit allem, was sie zur Selbsterhaltung noch tut, den Prozeß der Selbstzerstörung beschleunigt.

David Hares glasklare Inszenierung und die Souveränität der Darstellung wecken Erinnerungen an die viel gerühmten Inszenierungen von ‘The Speakers’ und ‘Fanshen’, die der Joint Stock Group den Ruf der “originellsten und best disziplinierten freien Schauspieltruppe des Landes” eintrugen.

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