die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1977
Text # 110
Autor Barrie Keefe
Theater
Titel Gimme Shelter
Ensemble/Spielort Soho Poly/Royal Court Theatre/London
Sendeinfo 1977.04.02/WDR

Die lang schwelende Krise des Royal Court Theatre hat schließlich ein Gutes gezeitigt. Stuart Burge, der neue künstlerische Direktor, entschloß sich zu einer Maßnahme, die zunächst wie eine Notlösung aussah, doch nun eher wie ein genialer Handstreich erscheint, zwar kaum zur Rettung aus finanziellen Nöten, aber zur Rettung der Reputation des Hauses. Das Royal Court Theatre stellt in diesen Wochen exemplarische Inszenierungen von einigen der besten freien Theatertruppen des Landes vor.

Nach Tony Bicats Stück ‘Teufelsinsel’, einer Inszenierung der Joint Theatre Company, dem zurzeit wohl bedeutendsten Schauspielerensemble unter den ‘Fringe Theatre Groups’, gastiert nun das Soho Poly mit seiner viel gerühmten Inszenierung von Barrie Keefes ‘Gimme Shelter’. Das Soho Poly, ein winziges Kellertheater im Londoner Westend, hatte die ersten beiden Akte des dreiteiligen Stückes zunächst einzeln als Lunchtime-Produktionen gezeigt. Der dritte Teil ist ein Nachspiel, in dem wir erfahren, was aus den Protagonisten der vorausgegangenen Akte wurde, eine mit vehementem Engagement geschriebene soziale Studie über die Not junger Menschen, die gegen die Normen der Gesellschaft rebellieren, welche die Aufrechterhaltung der Klassenunterschiede sichern. Sie rebellieren und unterliegen.

Der erste Teil zeigt drei junge Männer und ein Mädchen am Rande eines Cricket- Platzes. Kev hat seine Kollegen zum Boykott eines Cricketspieles überredet, das die Mannschaft der Versicherungsgesellschaft, bei der sie angestellt sind, alljährlich gegen das Team einer anderen Firma austrägt. Sein Protest ist Ausdruck der Verbitterung gegen die Vorgesetzten, das Prestige der Privilegierten, deren bessere Bildungschancen die Kluft zwischen Oben und Unten erhalten. Der Boykott mißlingt.

Der zweite Teil zeigt die Rebellion eines Sechzehnjährigen, der am letzten Tag seiner Schulzeit sich an zwei Lehrern und dem Direktor der Schule für jahrelange Demütigungen, die er erleiden mußte, rächt. Keiner der Lehrer erinnert sich mehr an den Namen des Jungen, obwohl sie das Zeugnis unterschrieben, das ihn als Versager ausweist und damit sein Schicksal zu besiegeln scheint. Er ist das anonyme Opfer eines Erziehungssystems, das in der Theorie auf dem Prinzip gleicher Bildungschancen basiert, doch in Wahrheit keinen Platz für die durch soziale Umstände Benachteiligten hat. Der Aufstand des Jungen ist die verzweifelte Rebellion eines Ohnmächtigen.

Der dritte Teil führt zur Begegnung mit den inzwischen Angepaßten. Kev gehört bereits zu denen, die er ein Jahr zuvor noch verachtete. Der revolutionäre Geist scheint verschwunden: Kev hat sich unmerklich eingereiht unter die Gewinner. Der rebellische Schüler des zweiten Aktes hat im Erziehungsheim einen Beruf erlernt und versucht, die Schrecken der Vergangenheit zu verdrängen. Als Gärtner sorgt er für die Pflege des Rasens, auf dem die anderen ihre elitären Spiele spielen. Kev erklärt ihn zum Idol der Revolution :”Wir sind doch auf derselben Seite” – “Wir?”, kommt die erstaunte Frage zurück. Kev hat die Seite gewechselt, ist übergelaufen zum Klassenfeind. Die Rebellion ist befriedet. “Ich habe mich verändert“, meint der Junge, “ich bin jetzt glücklich”. Die Gesellschaft hat die Rebellion erfolgreich integriert. Während auf dem Spielfeld der letzte Ball geschlagen wird, kommt das Diktum: “Wir haben wieder gewonnen”.

Die Londoner Kritiker lobten das Stück und seine hervorragende Inszenierung als “eines der wichtigsten und erregensten sozialen Dokumente der vergangenen Jahre”. “Kein anderes Stück in London hat so weitreichende Bedeutung für unsere Zeit als Ausdruck berechtigter Wut der Zukurzgekommenen”, hieß es im ‘Guardian’. “Barrie Keeffe spricht mit absoluter Autorität“, schrieb der Kritiker des ‘Sunday Telegraph’: “Das sind die in Produkte unseres Idealismus”. Und die ‘Times’: “Barrie Keeffe ist ein großes Talent”.

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