die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1985
Text # 209
Autor Howard Brenton/David Hare
Theater
Titel Pravda
Ensemble/Spielort Olivier Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie David Hare
Hauptdarsteller Anthony Hopkins
Uraufführung
Sendeinfo 1985.05.04/SWF Kultur aktuell/WDR/SR/ORF Wien (Erstfassg.) 1985.05.06/SRG Basel (Zweitfassg.)/Nachdruck: Darmstädter Echo 1985.05.31/DLF (teilw.)

‘Brassneck’ von Howard Brenton und David Hare, uraufgeführt 1974, war ein böses Lustspiel über den Verfall politischer Ideale und Korruption unter städtischen Beamten. ‘Pravda’, das neue Stück des Autorenteams, soeben uraufgeführt im großen Haus des Londoner Nationaltheaters, ist ein personenreiches Sittengemälde über den Mißbrauch der Macht in den Händen von skrupellosen Unternehmern, die durch Ankauf von Zeitungen Einfluß nehmen auf Auswahl und Präsentation der Nachrichten, ihre Redakteure zu Vollzugsorganen der Durchsetzung ideologischer Absichten machen, durch Massenentlassungen ganze Betriebe durcheinanderwirbeln und dabei nach außen und innen viel Unheil stiften; wobei die verantwortlichen Journalisten, die sich ihr Gewissen von den Besitzern der Zeitungen abkaufen lassen, zu nicht minder schuldigen Mittätern werden.

Aufgabe des Schriftstellers sei es, “niederzuschreiben, was um uns herum vorgeht“, erklären Brenton und Hare. In diesem Sinne verstünden sie sich als Historiker. Der Untertitel des neuen Stückes “eine Fleetstreet-Komödie” dürfe nicht zu eng gesehen werden. “‘Pravda’ bedeutet ‘Wahrheit’. Englische Zeitungen sind nicht Regierungspropagandablätter. Die Frage ist nur, warum viele von ihnen so tun, als seien sie es”.

‘Pravda’ ist kein Dokumentarspiel, doch die Parallelen zur historischen Wirklichkeit (nicht nur der britischen Szene) sind mit Händen zu greifen. Im Zentrum der Ereignisse steht eine Figur, die unübersehbar an den australischen Geschäftsmann und Zeitungsmogul Rupert Murdoch erinnert, Besitzer des Londoner Boulevardblattes ‘The Sun’ und der ‘Times’.

Lambert Le Roux, ein südafrikanischer Industriemagnat, will nach den Erwerb einer englischen Provinzzeitung auch im Fleetstreet-Bereich, dem Londoner Zeitungsimperium, Fuß fassen, was ihm, allen anfänglichen Widerständen zum Trotz, auch in kürzester Zeit gelingt. Der geschäftliche Erfolg seines Revolver- und Sexblattes ‘The Tide’ ermutigt ihn, sich um den Ankauf der mit Verlusten arbeitenden großen Tageszeitung ‘The Victory’ zu bewerben, eine der traditionellen Säulen des britischen Establishments. Der Coup gelingt. Das dem Aufsichtsrat gegebene Versprechen, auf die redaktionelle Arbeit keinerlei Einfluß zu nehmen, ist schnell vergessen. Die geplante Veröffentlichung eines Textes, der aus dem Verteidigungsministerium stammt und den Beweis erbringt, daß der Minister das Parlament belogen hat, liefert Le Roux den Vorwand für die Entlassung des Chefredakteurs und zahlreicher Mitarbeiter. Den Racheplan des gedemütigten Redakteurs weiß er gegen ihn selbst zu wenden. Damit hat der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg des Südafrikaners seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht: Le Roux gibt bekannt, er werde seine Zeitungen ‘Tide’ und ‘Victory’ aus Gründen der Rationalisierung zusammenlegen.

“Es geht uns um die Frage der Macht“, teilt Howard Brenton mit, “um die Frage, warum Journalisten so wenig Wert darauf zu legen scheinen, selbst Macht auszuüben über das, was sie schreiben”. Die Frage bleibt unbeantwortet. Deutlich wird, daß Brenton und Hare die Unfähigkeit der Journalisten beklagen, sich einem Le Roux entgegenzustellen. Daß sie ihn als haushoch überlegene Persönlichkeit zeigen, als einen Mann von außergewöhnlichen Fähigkeiten, der alle anderen einfach an die Wand spielt, so daß es zum echten dramatischen Konflikt, zur ernsthaften Auseinandersetzung gar nicht kommen kann, wird auch zur Schwäche des Stückes, die durch die grandiose Darstellung der Hauptrolle nur umso deutlicher hervortritt.

Anthony Hopkins, eine breitschultrig gedrungene, bullige, immer bedrohlich wirkende Gestalt, ist die bühnenbeherrschende Figur, der gegenüber alle übrigen zwergenhaft unbedeutend erscheinen. Ein Mann im Vollgefühl seiner Macht, der es nicht nötig hat, anderen etwas vorzutäuschen: “Warum soll man sich die Mühe machen, gute Zeitungen zu produzieren, wenn schlechte so viel leichter zu machen sind? Und sich auch noch besser verkaufen!”. Keiner sagt doch die Wahrheit. Warum sollen da Zeitungen eine Ausnahme machen? “Willkommen in der Lügenschmiede”.

Die Londoner Kritiker feierten das neue Stück in der flüssigen, auf die komischen Pointen drückenden Inszenierung von David Hare als “höchst unterhaltsames Drama“, “großartiges episches Schauspiel“, “eine derbe, schwungvolle, mitunter grobe Satire auf die Entartung der Zeitungen unter dem Einfluß anmaßender Industriemagnaten und die Selbstverstümmelung des merkantilen Kapitalismus” (‘Guardian’).

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