die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1980
Text # 297
Autor Wallace Shawn & André Gregory
Theater
Titel My Dinner With André
Ensemble/Spielort Theatre Upstairs/Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Louis Malle
Hauptdarsteller Wallace Shawn/André Gregory
Uraufführung
Sendeinfo 1980.11.07/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR Berlin/SR/RB/ORF Wien/SRG Basel

Ein Mann tritt vor das Publikum, spricht von sich selbst und der Begegnung mit einem Freund, der für einige Zeit verschollen schien. Wir werden Zeugen des Gesprächs, in welchem der Freund berichtet, was er in den letzten Jahren erlebte. Das Besondere daran ist, daß es sich um ein Theaterstück handelt, um das Stück zweier Autoren, genauer gesagt, des amerikanischen Schauspielers, Bühnen- und Fernsehautors Wallace Shawn und des im amerikanischen Theater der Avantgarde durch seine szenischen Experimente und Workshop-Veranstaltungen bekannten Regisseurs André Gregory; daß das auf einen realen Vorfall bezogene Stück nicht mehr und nicht weniger ist als ein Gespräch der beiden über sich selbst, in dem sie, die Autoren, sich selber spielen; und daß dies, die literarisch-szenische Produktion eines realen Gesprächs, unter der Leitung eines dritten Freundes, des in Amerika lebenden französischen Filmregisseurs Louis Malle, in drei Monaten entwickelt wurde, an nur fünf Abenden im Theatre Upstairs des Londoner Royal Court Theatre vorgestellt wird und anschließend von Malle verfilmt werden soll.

Was über die rein formalen Besonderheiten hinaus den Dialog zum bemerkenswerten Ereignis macht, ist die Persönlichkeit der Gesprächspartner, die, während sie nur über sich selbst, ihre sehr privaten Gedanken und Reaktionen auf die Umwelt zu sprechen scheinen, dabei – trotz aller Verbundenheit aus der Zeit ihrer Zusammenarbeit als Autor und Regisseur, gemeinsamer Interessen und gegenseitigen Respekts – grundverschiedene Haltungen vertreten und in Wirklichkeit die allgemeine Frage nach dem Sinn des Lebens stellen: Wer bin ich? Und warum bin ich hier?

Gregory hatte, wie sein von ihm so bewunderter Lehrmeister, der polnische Theatermann Jerzy Grotowski, vor einigen Jahren die Arbeit mit Schauspielern aufgegeben. Er hatte seine Familie verlassen, war ausgebrochen aus der vertrauten Umgebung und in die Welt gereist, getrieben von einem unwiderstehlichen Drang, der Suche nach Erkenntnis der Wahrheit, dem Sinn des Lebens, nach Verständnis und Seelenfrieden. Und während er mit leiser, suggestiver Stimme beschreibt, was ihm dabei widerfuhr – mit Grotowski und einer Gruppe von vierzig Frauen in der Abgeschiedenheit der polnischen Wälder; auf den Spuren des ‘Kleinen Prinzen’ von St.Exupéry meditierend in der Sahara; mit japanischen Mönchen; oder bei dem erschreckenden Experiment, nackt, mit verbundenen Augen lebendig begraben zu werden – erleben wir beinahe körperlich mit, daß es jenseits der Welt der Zwecke, die wir kennen, noch eine andere Welt gibt, die Welt der unmittelbaren Erfahrung, von der wir schon soweit entfernt sind, das wir, wie Gregory sagt, den anderen Menschen nicht mehr sehen, uns nicht mehr wirklich auf ihn beziehen können und, aus Not, in ein Rollenspiel verfallen, das die Unsicherheiten und Ängste verbergen soll und die Barrieren zwischen Ich und Du nurmehr erhöht.

Grotowski habe das Theater aufgegeben, weil es angesichts des realen Rollenspiels der Menschen geradezu obszön erschien. Wir seien auf Ziele fixiert, Gefangene der Gewohnheit, die blind und gedankenlos nur wiederholen, was ist, und nichts mehr wissen von der asiatischen Weisheit, die Sein als Werden und Wachsen versteht. Auch das Theater reflektiere nur das bekannte Elend der schematisierten Wirklichkeit. Die Alternative dazu aber laufe auf die Bemühung hinaus, die Fähigkeit zur unmittelbaren Erfahrung wiederzugewinnen, Seele und Geist der Menschen aufzuschließen und den Funken der Hoffnung zu säen, daß die Welt nicht sein muß, wie sie ist.

Wallace Shawn spielt dabei die Rolle des Mannes, der dem faszinierenden Ausflug ins Jenseits der Fixierung auf zwanghaftes Handeln mit ungläubig verdutztem Ausdruck atemlos folgt, doch dann mit fast verzweifelter Geste den Anspruch auf der Vorstellung einer in ihren realen Dimensionen einigermaßen überschaubaren, faßbaren Welt gegen die Gefahr des Einbruchs sinnverwirrender Abenteuer in die halbwegs gesicherten Bezirke unseres Bewußtseins zu verteidigen versucht. Doch mit den eindringlichen Bildern und Metaphern vor Augen – eine orwellsche Roboterwelt beschrieben als KZ, das die Häftlinge selbst erbaut haben und dem sie nicht entfliehen können, weil sie ihre eigenen Bewacher sind; dagegen die Botschaft, daß es darauf ankomme, die “Taschen des Lichts” zu entdecken und aufzutun, die Menschheit durch eine düstere Zeiten hindurch zu geleiten, eine neue Sprache des Herzens zu lehren, eine neue Poesie, als Schlüssel zur Spiegeltür ins Andere – mit den Bildern eines verzauberten Lebens vor Augen, kehrt Wallace Shawn (wie er uns in einem kurzen Epilog wissen läßt) in die vertrauten Straßen von New York bewegt und verwandelt, mit einem neuen Gefühl für die Schönheit einer hinter den lauten Fassaden verborgenen besseren Welt nach Hause zurück.

Ob und auf welche Weise Louis Malle, dessen Regie des philosophischen Dialogs kaum wahrzunehmen ist, versuchen wird, die ungemein suggestive, bildhafte Sprache auch visuell erfahrbar zu machen, muß offen bleiben, bis wir den Film, der daraus werden soll, sehen können.

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