die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1988
Text # 243
Autor Alan Ayckbourn
Theater
Titel Henceforward
Ensemble/Spielort Vaudeville Theatre/London
Inszenierung/Regie Alan Ayckbourn
Hauptdarsteller Ian McKellen
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1988.12.14/SFB 1988.12.15/SWF Kultur aktuell 1988.12.16/SRG Basel

“Keiner kann so komisch sein wie Alan Ayckbourn, und keiner so erschreckend”, hieß es in einer der ersten Kritiken zur Londoner Premiere der Neufassung des Stückes ‘Henceforward’, das unter der Regie des Autors im Londoner Vaudeville Theatre herauskam.

Als Peter Hall vor zehn Jahren zum ersten Mal ein Stück des erfolgreichen Boulevard- Autors (so die abwertende Bezeichnung des Lustspielschreibers) im Nationaltheater zur Uraufführung brachte, wurde er dafür heftig gescholten: die im kommerziellen Bereich gut verkäufliche Ware gehöre in die Londoner Westendtheater, nicht aber auf die Bühne des höchstsubventionierten britischen Schauspielhauses, das seine Ressourcen gefälligst ernsthafteren Projekten zukommen lassen solle. Vorwürfe solcher Art wären heute undenkbar, meint Peter Hall, der die Intendanz des Nationaltheaters inzwischen abgegeben und ein eigenes Schauspielensemble gegründet hat, das sich in diesen Tagen mit seiner ersten Aufführung im Haymarket Theatre vorstellt.

Während viele Bühnenautoren mit ernsteren Stücken begannen und sich erst in späteren Jahren an Lustspielen versuchten, scheint es bei Ayckbourn eher umgekehrt zu sein. “Wer in fünfzig Jahren den Geist der Thatcher-Ära kennen lernen will, kann sich an Ayckbourns Stücken orientieren”, erklärt Peter Hall, “er ist der Dramatiker der rücksichtslosen Gesellschaft unserer Zeit“. Ayckbourn ist salonfühig geworden.

Das Stück ‘Henceforward’ spielt (wie sein Titel verrät) in der nahen Zukunft. Sein Schauplatz ist die zur Festung ausgebaute, mit zahllosen Computern, Monitoren, Synthesizern, Mikrofonen, Lautsprechern und anderen Wunderwerken der modernen Technik vollgestopfte Nordlondoner Wohnung eines Komponisten, der alle Gespräche und Töne bis zu den intimsten Geräuschen aus Wohn- und Schlafzimmern aufzeichnet und als akustisches Baumaterial für seine musikalischen Kreationen verwendet. Seine Frau hat sich vor vier Jahren von ihm abgesetzt. Um wieder Zugang zu seiner Tochter zu gewinnen, täuscht er eine neue Verbindung und idyllische Häuslichkeit vor, wobei ein weiblicher Roboter eine entscheidende Rolle spielt.

Ayckbourn entwickelt irrsinnig komiche Situationen vor einem beängstigend düsteren politisch-sozialen Hintergrund, einer Großstadtszenerie, in der feindliche Vigilante-Banden die Straßen beherrschen und sich der harmlose Bürger kaum aus der gut abgeschirmten eigenen Wohnung hinausgetraut. Es ist der Albtraum von einer total technifizierten, demoralisierten, chaotischen, unmenschlichen synthetischen Welt.

“Kein anderer britischer Dramatiker wäre in der Lage, ein Science-Fiction-Stück zu schreiben und daraus eine vorzüglich gebaute Komödie zu machen, die zugleich Momente tiefer menschlicher Traurigkeit enthält”, hieß es im ‘Daily Telegraph’ zur Erstaufführung des neuen Ayckbourn. ‘Henceforward’ konfrontiere mit einer geradezu apokalyptischen Vision. – Auch im ‘Sunday Telegraph’ war von einer “Verdüsterung des produktivsten und kommerziell erfolgreichsten britischen Komödienautors“ die Rede. – Ayckbourn gelinge das Paradox “Je düsterer die Aussicht, umso komischer“, hieß es im ‘Guardian’. Das Erstaunlichste sei “die Balance zwischen Komik und Schrecken“. “Es ist eine tiefe, schwarze, beunruhigende Komödie“, schreibt der Kritiker Michael Billington und spricht die Vermutung aus, daß Ayckbourn im Blick auf den Künstler, der wie ein Parasit die Menschen seiner Umgebung aussaugt und sie als Material für seine kreativen Ambitionen mißbraucht, hier eine Art Exorzismus eigener Schuldgefühle betreibe.

Nichts wäre abwegiger als die Vorstellung, daß die Stücke Ayckbourns, weil sie auch in schwächeren Inszenierungen nicht völlig untergehen, sich quasi von selbst spielen würden. Immer wieder muß daran erinnert werden, daß nichts schwerer ist, nichts leichter “daneben gehen” oder “über die Stränge schlagen kann“, als die Komödie oder die Farce; daß die Diszipliniertheit der Darsteller, das Maß der schauspielerischen Selbstkontrolle über Wohl und Wehe einer Aufführung entscheiden. Selbst in Alan Ayckbourns eigener brillanter Inszenierung mit dem virtuosen, hier betont zurückhaltend agierenden Ian McKellen in der männlichen Hauptrolle wird deutlich, wo in dieser Hinsicht auch bei ‘Henceforward’ die Gefahren liegen, nämlich im tiefsinnigeren und doch unglaublich komischen zweiten Teil des Stückes, wenn die Geschichte nach mehrfachen Wendungen und den zu erwartenden Komplikationen sich ihrem Happyend zubewegt.

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