die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1971
Text # 9
Autor Jean-Louis Barrault/Engl. Fassung: Robert Baldic
Theater
Titel Rabelais
Ensemble/Spielort Roundhouse/London
Inszenierung/Regie Jean-Louis Barrault
Sendeinfo 1971/03/21/BBC German Service/Kulturkaleidoskop

Als Jean-Louis Barrault 1969 mit der Pariser Inszenierung seines ‘Rabelais’ im Londoner Nationaltheater gastierte, fand er ein begeistertes Publikum. Nun wurde auch die englische Fassung des ‘dramatischen Spiels in zwei Teilen nach den fünf Büchern des François Rabelais’ der Öffentlichkeit vorgestellt. Und wenn nicht alles täuscht, dann wird auch diese Inszenierung ein Publikumserfolg und vom Londoner Roundhouse demnächst in eines der Theater im Westend übernommen. Die Aufführung bietet nahezu alle Raffinessen, die sich bei anderen Kassenschlagern bewährt haben: Pop-musikalische Rhythmen, erotische Pantomimen, orgiastische Tänze, fantastische Kostüme und hübsche Mädchenbusen, dazu die beliebten akustischen und beleuchtungstechnischen Effekte. Der erste Eindruck des Ganzen ist darum ‘smashing’, wie man hier sagt: es haut einen um.

Doch seit der letzten Begegnung mit Barraults ‘Rabelais’ sind inzwischen zwei Jahre vergangen, und was damals noch aufregend neu wirkte, hat – nach ‘Hair’, dem Rock-Othello ‘Catch My Soul’ und ‘Oh Calcutta’ – zwar noch kaum an unmittelbarer Wirkung, jedoch einfach an Originalität verloren. Die szenische Show, die vor den Augen der Zuschauer wie ein flimmernder Bilderbogen abläuft, zieht die Aufmerksamkeit nicht mehr auf den roten Faden der Handlung, der die einzelnen Szenen verbindet, sondern lenkt ab auf formale Details und szenische Effekte, die es dem Zuschauer schwer machen, den Ereignissen auf der Bühne auch gedanklich zu folgen, wenn er die Bücher von Rabelais nicht kennt.

Das Stück nämlich (von dem nun endlich die Rede sein soll) ist, wie mir scheint, ein durchaus gelungener Versuch, das ungeheuer reichhaltige Material der fünfbändigen Romanchronik ‘Gargantua und Pantagruel’ von François Rabelais theatralisch auszubeuten, ein Versuch, der umso verdienstvoller ist, als er deutlich macht, wie viele Autoren der neueren Zeit – von Molière und Lafontaine über Alfred Jarry bis hinunter zu Günter Grass – unter dem Einfluß von Rabelais stehen, der gegen Ende des 15. Jahrhunderts geboren wurde und nach einem ruhelosen abenteuerlichen Leben im Jahre 1553 starb.

Die zwischen 1532 bis zu seinem Tode verfaßten Geschichten von ‘Gargantua und Pantagruel’ enthalten eine Fülle von Episoden, in denen Rabelais das herrschende Erziehungswesen der Zeit, die Rechtsprechung, die Kriegs- und Eroberungssucht, den Streit der Theologen, die Selbstgefälligkeit der Papisten und die Engstirnigkeit der Protestanten dem Gelächter preisgibt und dagegen die Utopie einer dem Leben zugewandten, friedliebenden, freien menschlichen Gesellschaft projiziert.

Barrault hält sich, soweit möglich, an den Text der Vorlage, übernimmt wörtlich ganze Passagen des Originals, folgt den für die Chronik wichtigsten Episoden, streicht zahlreiche Kapitel des Romans ganz, zieht andere zu einem einzigen Satz zusammen, variiert und kompiliert (wie das auch schon zu Lebzeiten Rabelais’ gang und gäbe war), fügt neue Verbindungsglieder ein und führt uns vor Augen, daß die in grotesken Fantasien ausgemalten Schrecken und Freuden, Ängste und Sehnsüchte auch zu der Welt gehören, in der wir heute leben. Bei weitem die besten Szenen der Londoner Inszenierung sind denn auch jene stark pantomimisch ausgespielten grotesk-komischen Passagen des Stückes, die Barrault wahrhaft meisterlich exerzieren läßt. Dagegen gibt sich die sprachliche Struktur des Textes, zumindest stellenweise, sozusagen im Rohzustand.

Barraults ‘Rabelais’ ist ein Loblied auf die Freuden des irdischen Daseins. Im Angesicht des Todes gibt es nur eine Devise: Trink aus der heiligen Flasche des Lebens, solange es Zeit ist! Trink! – ein Appell, der heute wie eh und je verstanden wird.

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