die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1974
Text # 68
Autor Charles Marowitz
Buchbesprechung
Titel Confessions of a Counterfeit Critic
Sendeinfo 1974.01.15/DLF Köln (Kurzfassung I) 1974.01.24/ORF Wien (Kurzfassung II)/Nachdruck: Darmstädter Echo

“Es wäre besser, Mr Marowitz bliebe bei dem, was er am besten kann, nämlich Stücke zu inszenieren, und überließe kritische Bewertungen denen, die dafür zuständig sind. Was der Autor mit diesem reichlich verfehlten Band versucht, läuft darauf hinaus, ein Buch zu schreiben und sich dann hinzusetzen, um es selbst zu rezensieren“.

Diese Sätze beziehen sich auf die vor kurzem im Londoner Verlag Eyre Methuen veröffentlichten ‘Confessions of a Counterfeit Critic’ von Charles Marowitz, ein – wie es im Untertitel heißt – ‘Londoner Theaternotizbuch aus den Jahren 1958-1971’. In der Tat stammen die Sätze aus diesem Buch selbst, und wer da so heftig gegen Marowitz vom Leder zieht, ist kein anderer als Charles Marowitz, der sich den Spaß erlaubt, in einer Art Coda der zu erwartenden Kritik an seinem Buch von Seiten der darin kritisierten Kritiker zuvorzukommen und ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Der Trick ist ebenso alt wie immer noch wirksam, in diesem Fall aber wohl besonders gekonnt angebracht, weil der Autor sich nicht nur mit der bekannten, für ihn typischen, stets gut fundierten und darum respektierten Kaltschnäuzigkeit über die Misere der Londoner Theaterkritik ausgelassen hat (ganz unfein unenglisch direkt und unmißverständlich), sondern sich auch durch den Nachdruck einer Auswahl von Theaterkritiken, die er selbst in den Jahren 1958-71 schrieb, den mit Vehemenz attackierten Kritikerkollegen ans Messer liefert. Und dies auf unvorsichtigste Weise. Zunächst und vor allem, weil Marowitz stets eine klare Meinung vertritt und sie mit spitzer Zunge und scharfer Feder unverblümt mitteilt. Daraus ergibt sich die allgemein so verpönte Einseitigkeit seiner Bewertung, insofern das Kritisierte stets an den eigenen Kriterien gemessen wird, welche praktische Erfahrungen und eine hochentwickelte kritische Intelligenz ausgebildet haben.

Bekennt sich einer öffentlich zur Subjektivität des Kritisierens (der einzig redlichen, einzig ernst zu nehmenden Form von Kritik), dann bringt er sich in Verruf. Ist einer rückhaltlos ehrlich, auch gegen sich selbst, versucht er – wie hier geschehen – beim Nachdruck alter Kritiken das von ihm Geschriebene durch selbstkritische Kommentare zu relativieren, aus späteren Erfahrungen zu korrigieren, dann schwächt er in den Augen anderer nur die eigene Position.

Marowitz begibt sich mutwillig in Gefahr, sorgt freilich auch dafür, daß er nicht darin umkommt. Die Leidenschaft, mit der er sich mitteilt, die Fähigkeit zur prägnanten Formulierung dessen, was am Werk als wesentlich aufgeht, die praktische Erfahrung aus der Arbeit als Theaterleiter, Regisseur und Experimentator auf der Suche nach zeitgemäßen Darstellungsformen, sein Wille zur unbedingten Wahrhaftigkeit und nicht zuletzt der eigene Anspruch darauf, was Theaterkritik zu leisten habe, lassen ihn als Idealfall eines Kritikers erscheinen.

Er selbst sieht sich in erster Linie als Regisseur, ist davon überzeugt, daß da seine besten Talente liegen und läßt keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen: weil es Leute gibt, die da anderer Meinung sind.

Gewiß, auf der Londoner Theaterszene der letzten zwölf Jahre hat Marowitz eine sehr wichtige Rolle gespielt: als Mitarbeiter von Peter Brook bei den Experimenten um den Artaudschen Begriff ‘Theater der Grausamkeit’; als Gründer, Leiter und Regisseur des Open Space Theatre; als Mitautor und respektlos-rigoroser Bearbeiter von Shakespeare-Texten. Doch kaum eine einzige seiner Inszenierungen der letzten vier Jahre hat mich von der Regie her je wirklich ganz überzeugt. Als Kritiker aber hat der streitbare Mann aus New York in England kaum seinesgleichen.

Marowitz gesteht: “Für mich bedeutete die Wendung von der Regie zur Kritik nur eine leichte Verschiebung der Diktion“. Aber: “Ich schrieb mehr aus der Sicht, der Haltung des Regisseurs, als aus der eines engagierten Kritikers”. Mag sein, daß gerade das seine Bedeutung als Kritiker ausmacht.

Charles Marowitz ist seit nun mindestens zehn Jahren die herausragende Figur des Londoner ‘Fringe Theatre’, der ‘Theater am Rande’, und gehört damit für die Jüngeren schon zum Establishment. Seine Experimente gelten ihnen mehr als literarische Spielereien, sind ihnen nicht mehr radikal genug, im formalen wie im politischen Sinne. Dafür bewundern sie die Ausdauer, mit der Marowitz seit vielen Jahren seinen Feldzug gegen das politische System der Theatersubventionierung geführt hat. Es ging dabei vor allem um die, wie ihm schien, schreiende Ungerechtigkeit, daß der für die Vergabe öffentlicher Mittel an künstlerische Unternehmungen zuständige Arts Council ein paar Mammuttheatern (National Theatre, Royal Shakespeare Company, Royal Opera, Sadler’s Wells Opera & Ballet) riesige Summen zur Verfügung stellte und dafür die große Zahl der künstlerisch vielleicht viel produktiveren Kleinbühnen darben ließ. Marowitz ist einer der ganz wenigen, denen es gelang, vom Arts Council eine Subvention zu bekommen, die die Einrichtung eines kleinen festen Ensembles ermöglichte, eine Grundvoraussetzung produktiver, kontinuierlicher künstlerischer Arbeit, um die Marowitz seit 1968 für sein Open Space Theatre lange vergeblich gekämpft hatte.

Die im Hauptteil der ‘Confessions’ nachgedruckten Theaterkritiken, die Marowitz in den Jahren 1958-1971 für britische und amerikanische Tageszeitungen und Fachzeitschriften schrieb, spiegeln seine Vorurteile im Hinblick auf ein ‘falsches’ Theatersystem, die Sinnlosigkeit der repetitiven Klassikerinszenierungen, sein Mißtrauen gegen die Einrichtung eines Nationaltheaters (Zitat: “Bis zum heutigen Tag steht und funktioniert es als die Erfüllung eines Traums der Mittelklasse von kultureller Respektabilität mit hochfliegenden Intentionen und gesellschaftlicher Anerkennung, trotz seiner Leistungsunfähigkeit und Mißkalkulationen fürstlich subventioniert über alles vorstellbare Maß”); und seine tiefe Enttäuschung über die Verschwendung wirklich großer Talente, die nicht rechtzeitig genug die nötige Förderung erhalten (größtes Beispiel in diesem Zusammenhang – Joan Littlewood: “Wenn eine wahre Geschichte des englischen Theaters jemals geschrieben werden sollte, dann wird Joan Littlewood darin herausragen als das liebenswürdigste, größte und am meisten vernachlässigte Genie. Nur in England, das von einem dummen und reaktionären Arts Council regiert wird, einem korrumpierten Gefühl für höhere Zwecke und einer unwiderstehlichen Schwäche für langweilige und talentlose Mittelmäßigkeit, – nur hier brachte man es fertig, eine Regiebegabung vom Range der Littlewood auf so empörende Weise zu verschwenden”).

Wie seine Aversionen und Lieblingsfeinde sind auch seine Vorlieben und Sympathien auffällig: Seine Begeisterung für Artauds Theatertheorien (“Artaud war mein Maßstab”) und für Peter Brook, besonders seine ’Marat-deSade’-Inszenierung als Endprodukt der gemeinsamen experimentellen Arbeit mit einer Gruppe von Schauspielern der Royal Shakespeare Company; seine Ablehnung der musicalhaften Dokumentarstückinzenierung von Brooks ‘US’ über Amerikas Vietnamkrieg; seine Bedenken gegen Brooks ‘Sommernachtstraum’ (“Brook benutzt Shakespeares Text als Trampolin zur Vorführung verblüffender Effekte”).

Im ersten Teil des Buches entwickelt Marowitz seine Vorstellung von dem, was Kritik zu leisten habe, und erklärt sein Ungenügen an den in London üblichen Varianten von Theaterkritik, den verschiedenen Kritikertypen, die er aufs Anschaulichste beschreibt. Dagegen entwickelt Marowitz seine eigenen Vorstellungen über sinnvolle Kritik: Weg von der Kritik als Kundenberatung, die nur sehr begrenzte Bedeutung hat; hin zur anti-journalistischen Kritik.

Vernichtend wirkt das Urteil über den gegenwärtigen Stand der Theaterkritik in England. “Die generelle Regel ist: Kritik ist niedrig im Niveau, prinzipienlos, trivial, seicht, kleingeistig und großsprecherisch, von sachfremden Erwägungen verwirrt und auf den Hund gebracht von Zwergintellektuellen; sie ist das Feld für die zungenflink Oberflächlichen, modisch Verspielten, die literarischen Gentlemen der oberen Mittelklasse statt für Leute, die sich in ihrer Profession wirklich auskennen, die besten Gedanken über die Sachfragen ihres Gebietes entwickelt haben und wirklich begnadet sind mit der Fähigkeit, geistig differenziert auf die vielfältigen Möglichkeiten ästhetischer Erfahrung aus der Begegnung mit Kunst zu reagieren”. “Man kann niemals zu kritisch sein, ... aber man kann sehr wohl zu wenig kritisch sein”.

Marowitz schlägt vor, man sollte stets streng unterscheiden zwischen ‘Aufführungsbesprechung’ und ‘Kritik’: “Eine Aufführungsbesprechung ist eine dürftige journalistische Annehmlichkeit, Kritik ist ein intellektueller Akt“. Und – sicher nicht ohne persönliche Hintergedanken gesagt: “Die bedeutendsten Theaterkritiker waren, wie die besten Kritiker anderer Kunstgattungen, immer die Künstler selbst”.

“Was uns im Augenblick am meisten fehlt”, heißt es in einem Brief an Peter Brook nach dessen ‘US’-Inzenierung, “ist eine viel genauer unterscheidende und scharfsichtige Form von negativer Kritik, welche die Londoner Aufführungsbesprecher nicht kennen. Scharfsinnige Begründung und klare Einsichten, warum Inszenierungen mißlingen oder scheitern, sind nach meiner Meinung negative Kritik höchsten Ranges. Sie sagt NEIN und erklärt, warum NEIN”.

Die ausgewählten Theaterkritiken mit den kritisch klärenden Kommentaren des Autors sind wirklich ‘Bekenntnisse’, meisterlich geschriebene Dokumente zur Londoner Theatergeschichte aus den fruchtbar turbulenten sechziger Jahren. Seine polemischen Bemerkungen zur Funktion der Theaterkritik im allgemeinen, zur Londoner Kritikermisere im besonderen gehören zum besten, was darüber gesagt oder geschrieben wurde.

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