die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1973
Text # 54
Theater
Titel Beowulf
Ensemble/Spielort Freehold Company/ Theatre Upstairs/ London
Inszenierung/Regie Nancy Meckler
Uraufführung
Sendeinfo 1973.04.03/SWF Kultur aktuell 1973/04/04ORF Wien/Nachdruck: Darmstädter Echo

Das alt-englische Beowulf-Epos aus dem achten Jahrhundert, eines der frühesten Werke europäischer Dichtung, beschreibt den siegreichen Kampf des Titelhelden mit dem menschenfressenden Ungeheuer Grendel und dessen Mutter, die Befreiung des Königreiches von den Mächten der Dunkelheit, den Sieg des Lichts, des Guten über das Böse, der Jugend über das Alter, der Mächte des Lebens über die des Todes.

Das alte Werk des unbekannten Dichters dient der Freehold Company als Vorlage für eine Folge szenischer Variationen über die Themen Identität, Gewalt, Zeit und Erinnerung, Überwindung von Tod und Alter. In kaum mehr erkennbarer logischer Verbindung entwickelt die Gruppe abstrakt wirkende szenische Figurenketten, Bewegungsabläufe, die Situationen, Haltungen und Stimmungen bezeichnen ohne illustrative oder direkte Benennung. Die Figuren wirbeln umher, tanzen und überschlagen sich; Spannungen werden aufgebaut – gestisch durch Ballung und Beschleunigung, sprachlich-akustisch durch simultanes Sprechen oder die Erzeugung vokaler Laute, an- und abschwellendes Summen, Raunen, Pfeifen, Schreie, gestische und akustische Crescendi, die auf dem Höhepunkt abrupt enden und zu neuen Bildern und Szenen überleiten. Eine Darstellungsweise, die ebenso schwer mit Worten zu beschreiben ist, wie sie unmittelbar wirkt als Ausdruck archetypischer Konstellationen: Die Verquickung von Kampf auf Leben und Tod mit Formen des Liebesspiels, die erotische Spannung zwischen den Kämpfenden, ihre wollüstig verkeilten Körper, Kopulation der Gegensätze. Daneben Meditationen über existenziale Fragen; der Drang des Menschen, über die ihm gesteckten Grenzen hinauszuwachsen, und die Weisheit der Selbstbescheidung.

Dem Anspruch solcher Fragen und der Abstraktheit der gestischen Zeichen ist ein unvorbereitetes Publikum kaum gewachsen. Nur die von konkreten, erkennbaren Modellen der Wirklichkeit abgeleiteten Formen und Figurationen, sowie die komischen, übermütigen und ironischen Momente im Spiel helfen dem Publikum, das fasziniert den Vorgängen folgt, zu lichten Momenten des Verstehens.

Von den annähernd zwanzig Gruppen, die sich noch im Herbst 1970 zu dem vom Royal Court Theatre veranstalteten ‘Festival der Experimentiertheater’ einfanden, sind nach zweieinhalb Jahren nur ein halbes Dutzend übrig geblieben. Für die Gruppen, die ihre Arbeit einstellten, hat sich eine kaum feststellbare Anzahl neuer Ensembles formiert, die mit ähnlichem Enthusiasmus sich der Aufgabe verschrieben haben, nach neuen, zeitgemäßen Formen des Theaters zu suchen, – mit einer Hingabe, die angesichts der persönlichen Opfer etwas von der ausdauernden Wut und Entschlossenheit von Widerstandskämpfern hat, die im Untergrund für die Veränderung der herrschenden Verhältnisse arbeiten. In diesem Fall geht es um die Veränderung, die produktive Weiterentwicklung der Gattung Theater, die sich regenerieren muß, um in einem amusischen Zeitalter überleben zu können.

Dem überlieferten Schema szenischer Darbietungen ist nur durch systematische Versuche beizukommen. Von den wenigen Gruppen, die seit Jahren mehr oder weniger systematisch an der Entwicklung eines eigenen Darstellungsstils gearbeitet, brauchbare Alternativen gefunden und so den mühseligen Kampf im theatralischen Untergrund bisher überlebt haben, sind nach dem Ende der grandiosen Pip Simmons Theatre Group in London nur noch die People Show und die Freehold Company geblieben.

Die Arbeitsweise der Freehold Company, die seit fünf Jahren unter der Leitung der Amerikanerin Nancy Meckler unter laboratoriumsähnlichen Bedingungen experimentiert, erlaubt jährlich nicht mehr als zwei, höchstens drei Neuinszenierungen. Denn es geht hier nicht um die szenische Interpretation fertig vorliegender Theatertexte, sondern um die Entwicklung einer Inszenierung aus improvisierten Gruppenspielen, die sich aus den Motiven und Sprachbildern einer Textskizze ergeben und bis zum beinahe abstrakten gestischen und musikalisch-akustischen Ausdruck vorgetrieben werden. Sprache wird körperlich, ihre Tonwerte, Melodie und Rhythmus gewinnen an Selbstständigkeit gegenüber dem reinen Informationswert der Worte, deren Sinn sie vertiefen.

Die Grenzen solcher extremen Experimente sind klar genug. Aber es sind die extremen Experimente, die das Theater über die Grenzen der altgewohnten Formen hinaustreiben.

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