die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1982
Text # 326
Autor Christopher Bruce (Bertolt Brecht/Kurt Weill)
Ballett
Titel Berlin Requiem (Kleines Mahagonny/Reqiem)
Ensemble/Spielort Ballet Rambert/Sadlers Wells Theatre/London
Inszenierung/Regie Christopher Bruce
Uraufführung
Sendeinfo 1982.03.15/DLF/SR 1982.03.16/SWF Kultur aktuell/RB 1982.03.22/Darmstädter Echo

Seit dem Federico Garcia Lorca gewidmeten Tanztheaterstück ‘Cruel Garden’, mit dem das Ballet Rambert, eines der beiden großen modernen Tanzensembles der britischen Hauptstadt, vor vier Jahren Schlagzeilen machte, gilt Christopher Bruce als einer der bedeutendsten Choreographen des Landes. ‘Cruel Garden’ begeisterte Publikum und Presse gleichermaßen als Werk von seltener sinnlicher Schönheit und – im Bereich des Balletts – bemerkenswerter gedanklicher Überzeugungskraft, das durch Integration schauspiel-theatralischer, pantomimischer, lyrischer und arioser Elemente die dem traditionellen Tanz gesetzten Grenzen zu überwinden schien. Was Bruce als Choreograph neben der poetischen Phantasie und artistischen Meisterschaft auszeichnet und von anderen unterscheidet, ist eine menschliche Qualität, die Begabung zum Mitleiden am Unrecht, das den Wehrlosen geschieht und ihn zur Solidarisierung mit den Opfern treibt. Bruce ist ein Choreograph mit sozialem Gewissen.

So ist es vielleicht nicht verwunderlich, daß seine jüngste Arbeit unter dem Titel ‘Berlin Requiem’ auf zwei Werken von Brecht und Weill basiert, die 1927 und 1929 in Baden-Baden uraufgeführt wurden: dem später zur Oper ausgebauten Singspiel ‘Mahagonny’ und dem ‘Berliner Requiem’, einer Folge von Brecht-Gedichten, die Kurt Weill als Erinnerung an die Toten des ersten Weltkriegs vertont hatte. Fünf Songs aus dem sogenannten ‘Kleinen Mahagonny’ bilden den ersten, fünf Lieder des fast völlig unbekannten ‘Berliner Requiems’ den zweiten Teil des neuen Balletts. Christopher Bruce erklärt, die Stücke hätten ihn vom ersten Augenblick an begeistert. Wenngleich stilistisch sehr verschieden, seien beide Arbeiten, ‘Mahagonny’ und ‘Requiem’, ein Anschlag auf die Werte der damaligen Gesellschaft gewesen. “Ich habe das Gefühl“, schreibt Bruce im Programmheft, “daß sich die Verhältnisse seither kaum verändert haben und die Schlüsse, die damals gezogen werden sollten, sich auch heute ziehen lassen”.

Spielort des ersten Teils ist eine Nachtbar. Sie wird bevölkert von Figuren, die George Grosz und Otto Dix gemalt oder August Sander mit der Kamera festgehalten haben könnten. Diese Bar ist Symbol der modernen Großstadt, in der erlaubt ist, was gefällt, solange man zahlen kann. Bruce zeigt einen Tanz auf dem Vulkan, eine Gesellschaft, die sich absurd verrenkt und aus den Fugen geht, eine komisch überdrehte, groteske Gesellschaft, die in den Rausch flieht, um den Sturm zu überhören, der das große Erdbeben anzukündigen scheint, durch welches die Stadt Mahagonny untergeht.

Die Szene der Ankunft Gottes in Mahagonny, eine Gestalt im eleganten weißen Anzug, wird zum dramatischen Höhepunkt des ersten Teils. Gott kann die Leute von Mahagonny nicht in die Hölle jagen, weil sie bereits in der Hölle leben. Nach seiner Vertreibung verwandelt sich die Szene in eine zerschlagene Landschaft, Ein Schlachtfeld des ersten Weltkriegs, Berlin nach dem zweiten. Die ‘Ballade vom ertrunkenen Mädchen’ mit einem Epitaph für die von Faschisten ermordete Rosa Luxemburg, deren Leiche man aus dem Landwehrkanal zog, gehört zu den eindrucksvollsten Szenen des düsteren zweiten Teils.

Das ‘Berliner Requiem’ von Brecht und Weill deutet bereits prophetisch auf die Dreißigerjahre, erklärt Christopher Bruce, “und auf den Holocaust des zweiten Weltkriegs, in dem Berlin in Schutt und Asche versinkt. Das Erdbeben ist angekommen”.

“Bruce’s Choreographie erfaßt menschliches Leiden und den Trübsal einer Zivilisation, die im Dunkel versinkt”, schrieb die ‘Financial Times’ nach der Premiere. – “Dieses Ballett ist das beste, was wir seit Jahren von Bruce gesehen haben”, hieß es im ‘Daily Telegraph’. “Doch die wohl einflußreichste Person war nur im Geiste dabei: man kann diese Melodien nicht hören, ohne an den eindringlichen Stil der Lotte Lenya zu denken”.

Nach Oben