die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1985
Text # 213
Autor Daniel Mornin
Theater
Titel The Murderers
Ensemble/Spielort Cottesloe Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Peter Gill
Uraufführung
Sendeinfo 1985.09.25/SWF Kultur aktuell/DLF/SR/ORF Wien/SRG Basel

Mit einem neunwöchigen ‘Festival neuer Stücke’ feiert das Londoner Nationaltheater die Wiedereröffnung seines kleinen Hauses, des Cottesloe Theatre, das seit April dieses Jahres nicht mehr bespielt werden konnte, weil – wie Intendant Peter Hall in einem dramatischen Appell an die Öffentlichkeit bekannt gegeben hatte – die für die künstlerische Arbeit des Nationaltheaters zur Verfügung stehenden Gelder einfach nicht ausreichten. Hall hatte sich zum Sprecher für die subventionierten Bühnen im ganzen Land gemacht und in kaum zu überbietender Schärfe seine Verbitterung über die Politik der britischen Regierung zum Ausdruck gebracht, die offensichtlich nicht wisse, was sie tue, wenn sie die Theater in den Bankrott treibe. Um das künstlerische Niveau der übrigen Bühnen des Nationaltheaters zu halten, mußte das Cottesloe schließen. 92 Angestellten wurde gekündigt.

Ein Sonderzuschuß der Londoner Stadtregierung in Höhe von 375.000 Pfund (1,5 Millionen Mark) hat es möglich gemacht, daß das Cottesloe nach fünf Monaten die Arbeit wiederaufnehmen kann. Der außerplanmäßige Zuschuß reicht aus, um damit ein halbes Jahr zu überbrücken. Dem Direktor der im vergangenen Herbst eingerichteten Nationaltheater-Werkstatt Peter Gill gibt er Gelegenheit, eine Reihe neuer Arbeiten vorzustellen, die gemeinsam mit den Autoren entwickelt und bisher noch nicht oder höchstens in einmaligen Studienaufführungen vor Publikum getestet wurden. Das Nationaltheater kommt dabei ebenso einer Verpflichtung nach, die es lange Zeit zu verdrängen schien: mit der Inszenierung von Werken junger Autoren deren schriftstellerische Arbeit zu fördern.

Bis Ende November stehen zehn neue Stücke auf dem Programm des Cottesloe Theatre, fünf abendfüllende Werke, darunter die Dramatisierung eines Romans von William Faulkner und die Neufassung eines Dokumentarstückes über eine englische Bergarbeiterkommune, sowie fünf kürzere Texte. Die Reihe begann mit Daniel Mornins ‘The Murderers’, die grausige Studie einer Mörderbande im nordirischen Belfast, die sich aufs Abschlachten katholischer Mitbürger spezialisiert hat.

Seit dem Anfang der Siebzigerjahre – die Zeit, in der ‘The Murderers’ spielt – hat es viele Theaterstücke gegeben, die uns mit der nordirischen Bürgerkriegsszene vertraut gemacht haben und sich bemühten, den Hintergrund von Ereignissen zu beleuchten, die wegen der BBC-Zensur von Nachrichten über die Vorgänge in Nordirland auch der britischen Öffentlichkeit weitgehend unverständlich geblieben waren. Im britischen Propagandakrieg gegen die irischen Rebellen schienen die Organe der britischen Presse, des Rundfunks und Fernsehens zu unabhängiger Berichterstattung kaum noch in der Lage zu sein, hatten Partei ergriffen, sprachen viel vom Bombenterror der IRA, der unschuldigen Menschen Tod und Verderben bringe, doch wenig von den sozialen Verhältnissen in der irischen Provinz, von undemokratischen Gesetzen und jahrhundertealtem Unrecht, die den von der IRA geführten verzweifelten Widerstand provozierten. Den Theaterstücken, die sich mit diesem Thema befaßten, fiel hier die Aufgabe zu, das verschobene Bild zu korrigieren, kritische Aufklärung zu betreiben und Einsichten zu vermitteln, die durch politische Interessen lange Zeit bewußt verstellt worden waren.

‘The Murderers’ von Daniel Mornin, der vor 29 Jahren in Belfast geboren wurde und seit 1969 in London lebt, muß in diesem Kontext gesehen werden. Doch im Unterschied zu anderen Nordirland-Stücken hat man hier den Eindruck, daß der Autor sich für die politischen Verflechtungen kaum interessiert, es ihm eigentlich gar nicht darauf ankommt, auf welcher Seite die Verbrechen geschehen, deren Zeuge wir werden. Denn Mord bleibt Mord auch in Kriegen und Bürgerkriegen.

Der mit unbeschreiblicher Bestialität ausgeführte Mord wird zur zentralen Szene des Stückes. Regisseur Peter Gill läßt sie in qualvoller Ausführlichkeit grauenhaft realistisch ausspielen. Es ist die brutalste, abscheulichste Szene, die ich je auf der Bühne gesehen habe, eine Szene, die so tief und durchdringend erschüttert, daß alle Fragen nach Recht oder Unrecht der im nordirischen Konflikt verstrickten Parteien ihre Bedeutung verlieren und nur noch zählt, daß Menschen so handeln können.

Was den Kritiker der Londoner ‘Times’ nach der Premiere zu der Feststellung veranlaßte, das Stück leiste leider keinen Beitrag zur Klärung der irischen Verhältnisse. Stattdessen stellt es, wenn ich Peter Gills schonungslose Inszenierung richtig verstehe, die sehr viel ältere, allgemeinere Frage: die nach der Bestie im Menschen.

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