die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 140
Autor Harold Pinter
Theater
Titel Betrayal
Ensemble/Spielort Lyttelton Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Peter Hall/Bb. u. Kostüme: John Bury
Hauptdarsteller Penelope Wilton/Michael Gambon/Daniel Massey
Uraufführung
Sendeinfo 1978.11.17/SWF Kultur aktuell/DLF/SRG Basel/SR (Kurzfassg.) 1978.11.18/ORF Wien

“Über dieses Thema läßt sich doch nicht viel Neues sagen, oder?”, meint Robert im Blick auf den neuen Roman, den seine Frau Emma gerade liest. “Über welches Thema?”, fragt sie zurück. – “Betrug”.

Harold Pinters neues Stück mit dem Titel ‘Betrayal’ (Betrug), soeben uraufgeführt im Lyttelton Theatre des Natonaltheaters, handelt von Betrug in der Ehe, Betrug zwischen Menschen, die irgendwann einmal Treue geschworen und später gebrochen haben. Einer betrügt seine Frau mit der Frau seines besten Freundes; sie betrügt ihren Mann, der – wie wir später erfahren – auch seine Frau betrügt; und – schlimmer offenbar als jeder Betrug unter Eheleuten – der Freund betrügt den Freund. Was ließe sich darüber Neues sagen?

Harold Pinter will uns darüber nichts Neues sagen, doch er sagt das Uralte neu auf eine Weise, die unter die Haut geht, weil es jedermann wie das Destillat der ganz persönlichen Erfahrung erscheinen muß, die hier, verkürzt und verdichtet auf das archetypische Dreiecksverhältnis der Frau zwischen zwei Männern, die wiederum untereinander eng befreundet sind, in der Erinnerung zahlloser Augenblicke der eigenen Vergangenheit wiederkehrt, Augenblicke der Ratlosigkeit und tiefen Unsicherheit, der lieblichen Versuchung, der Illusion vom großen neuen Glück; Augenblicke des Verrats und der Täuschung, der Hilflosigkeit gegenüber dem Verfall einer Liebe, die so vielversprechend begann; Augenblicke der Ohnmacht und der inneren Verzweiflung über dem Gefühl der hoffnungslosen Einsamkeit und unerreichbaren Ferne des allernächsten Menschen; Augenblicke des allmählich dämmernden Bewußtseins von Verfehlung.

Pinters Dreipersonenstück beginnt mit der Begegnung zweier Menschen zwei Jahre nach dem Ende einer Liebesbeziehung, die sieben Jahre dauerte. Die Frau steht inzwischen vor der Trennung von ihrem Ehemann, einem alten Freund ihres vormaligen Liebhabers, der seinerseits mittlerweile so tief in der Rolle des konventionellen Familienvaters aufgeht, daß die Erinnerung die erregenden Zeiten des sorgfältig abgesicherten Doppellebens zur beinahe bedeutungslosen Episode verzeichnet.

Das flüchtige Wiedersehen des einander entfremdeten Paares ist das traurige Nachspiel einer Verbindung, die uns im Folgenden rücklaufend, also in umgekehrter Chronologie, skizzenhaft vorgestellt wird; wobei es im Unterschied zu früheren Pinter-Stücken hier keinen Zweifel gibt über das, was wirklich geschah; die Erinnerung der Betroffenen mag Einzelheiten verschieben, doch tut es stets so, daß wir als Publikum die Wahrheit wissen. Die Spannung richtet sich also nicht mehr darauf, was geschah, sondern darauf, wie es geschah.

Den drei Personen, um die es geht, fehlt alles auffallend Ungewöhnliche, bis auf ein zuweilen verblüffendes Maß an freiwilliger Selbstkontrolle der Gefühle und Bereitschaft zur Toleranz, die man freilich auch wieder als Ausdruck der inneren Reserve und Teilnahmslosigkeit deuten könnte. Verleger, Literaturagent, Galerist – man kennt das Milieu zu gut aus modischen Romanen, Filmen und Theaterstücken, als daß es uns noch sonderlich interessieren könnte. Die Formen des sprachlichen Umgangs, die englische Kunst der verhaltenen, indirekten Redeweise sind wohlvertraut. Doch was Harold Pinter aus dieser reichlich banalen Geschichte einer Dreierbeziehung ziemlich langweiliger Charaktere macht – aus einem Nichts an Handlung, die zudem, weil sie von hinten aufgerollt wird, von Anfang an durchschaubar ist; aus Konflikten, die fast jedermann gut bekannt sind; aus Gesprächen, die weitgehend klischeehaft verlaufen – das ist nichts weniger als genial.

Die Dialoge sind aufs äußerste verknappt und musikalisch-rhythmisch durchkomponiert zu einem amüsanten, anspielungsreichen Tanz mit Worten, die, wenn man sie ernst nimmt und auf sie eingeht, ihren banalen Sinn verändern und uns hinter die Fassaden der Förmlichkeit blicken lassen. Stereotype Redewendungen, Verlegenheitsfloskeln, Fangfragen, Ausflüchte und Ablenkungsmanöver, Wortverdrehungen, Notlügen und die zahllosen Möglichkeiten des Schweigens aus Not, aus Angst, aus Rücksicht, aus Scham, aus Unverständnis oder aus Liebe, aus Bitterkeit oder aus einfacher Sprachlosigkeit sind die Elemente dieses kunstvollen Spiels um Täuschung und Betrug.

Peter Hall, der Intendant des Nationaltheaters, läßt die neun kurzen Szenen des Stückes wie Sätze eines kammermusikalischen Werkes spielen. Penelope Wilton, Michael Gambon und Daniel Massey sind die virtuosen Solisten des Dramas.

 

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