die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1988
Text # 334
Autor Ludwig van Beethoven/Barry Cooper
Musik
Titel ‘Beethoven’s Tenth Symphony’
Ensemble/Spielort Royal Liverpool Philharmonic Orchestra/Royal Festival Hall/London
Inszenierung/Regie Walter Weller
Uraufführung
Sendeinfo 1988.10.19/DLF/HR/WDR/SRG Zürich 1988.10.28./Darmstädter Echo

Bis vor wenigen Jahren galten alle Gerüchte über die Existenz von musikalischen Skizzen zu einer Zehnten Symphonie von Beethoven als pure Spekulation. 1844 hatte Anton Schindler, einer der Sekretäre Beethovens, einen Artikel veröffentlicht, in dem von Entwürfen zur unvollendeten Zehnten Symphonie die Rede war. Und Karl Holz, ein anderer Sekretär des Komponisten, hatte mitgeteilt, Beethoven habe ihm den ersten Satz dieser Symphonie auf dem Piano vorgespielt und es gebe Skizzen für das gesamte Werk.

Als Ludwig van Beethoven im März 1827 starb, fand man in seiner Hinterlassenschaft Tausende von zumeist unleserlichen Notaten, aber keine klaren Anhaltspunkte dafür, daß Beethoven wirklich an dem von Schindler und Holz erwähnten Projekt gearbeitet hatte. Die Musikwissenschaft beschloß, ihre Aussagen ebenso zu ignorieren wie einen acht Tage vor Beethovens Tod geschriebenen, an die britische Royal Philharmonic Society gerichteten Brief, in welchem der Komponist sich für die ihm zur Linderung seiner Not überwiesenen 100 Pfund bedankt und der Gesellschaft als Gegenleistung die “neue Symphonie” verspricht, deren Skizzen bereits in seinem Schreibtisch lägen.

‘Beethovens Zehnte’ blieb ein Phantasieprodukt, eine Art Yeti der Musikgeschichte, bis der britische Musikologe Dr. Barry Cooper vor fünf Jahren bei Recherchen für sein neues Buch “Über den schöpferischen Prozeß bei Beethoven” in der Berliner Staatsbibliothek auf musikalische Notizen aus dem Jahr 1825 stieß, die er eindeutig als Entwürfe für eine Zehnte Sinfonie identifizieren konnte. Der Beethovenforscher Sieghard Brandenburg hatte ebenfalls Skizzen aus den Jahren 1822 und 1824 gefunden, die zum selben Projekt zu gehören schienen.

Barry Cooper entdeckte, daß die in Berlin und Bonn aufgetauchten musikalischen Fragmente mit der Beschreibung, die Karl Holz vom ersten Satz der Zehnten gegeben hatte, übereinstimmten: eine verhaltene Einleitung in Es-Dur und ein kraftvolles Allegro in C-Moll. Und obwohl keiner der Entwürfe mehr als zwanzig Takte lang war und keine Harmonien und nur wenige Hinweise auf die Instrumentierung enthielt, hatte Cooper schließlich so viel musikalisches Material an der Hand, daß er aufgrund seiner eingehenden Kenntnis von Beethovens Stil und seiner Kompositionsmethoden sich zutrauen durfte, wenigstens den ersten Satz der ‘neuen Sinfonie’, die der Londoner Philharmonischen Gesellschaft versprochen worden war, im Geiste Beethovens zu vollenden.

Das vorliegende Musikstück ist ungefähr fünfzehn Minuten lang. “Etwa Zweidrittel basieren direkt auf Beethovens Skizzen”, erklärt Barry Cooper, “das übrige habe ich aus dem vorliegenden thematischen Material entwickelt .. Es kam mir darauf an, einen künstlerischen Eindruck von dem, was Beethoven selbst geplant hatte, zu vermitteln und seine Skizzen, die auch gemessen an seinen eigenen hohen Ansprüchen von außerordentlicher Qualität sind, so gut wie möglich in den von ihm beabsichtigten Kontext zu stellen”.

Das Resultat ist zweifellos erstaunlich und klingt wie ein Stück aus der musikalischen Werkstatt des Meisters. Bei der Generalprobe am Nachmittag vor der Galapremiere des Werkes in der Londoner Royal Festival Hall war auch Yehudi Menuhin zugegen, auf den sich nachher der Schwarm von Fernseh-, Rundfunk- und Pressereporter stürzte, die aus zahlreichen Ländern herbeigeeilt waren, um über das große Ereignis, die posthume Erstaufführung einer bislang unbekannten Arbeit von Beethoven, zu berichten. Er halte das Projekt für außerordentlich interessant, meinte Menuhin. Barry Cooper sei mit bewundernswertem Sachverstand, akribischer Sorgfalt und größtem Respekt vor Beethovens mutmaßlichen Intentionen zu Werke gegangen. “Ist es ein bedeutendes Werk?“, wollte ein französischer Kollege wissen. Yehudi Menuhins Antwort: “Wir haben uns daran gewöhnt, bei der Entdeckung von historischen Relikten, ja selbst beim Auftauchen alter Goldmünzen von ‘bedeutenden Funden’ zu sprechen. So bedeutend ist die musikalische Entdeckung, um die es hier geht, auf jeden Fall“.

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