die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1987
Text # 222
Autor Botho Strauß
Theater
Titel Groß und Klein/Die Fremdenführerin
Ensemble/Spielort Vaudeville Theatre/Almeida Theatre/London
Inszenierung/Regie Keith Hack/Pierre Audi
Hauptdarsteller Glenda Jackson/Tilda Swinton/Paul Freeman
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1987.04.10/WDR/ORF Wien 1987.04.11/SWF Kultur aktuell/DLF/BR/Nachdruck: Darmstädter Echo

“Seit dem Krieg haben deutsche Theater die Arbeiten junger britischer Autoren, sobald sie erschienen, aufgegriffen, doch hier in England hält man die Stücke der jungen Deutschen fast ebenso wirksam von den Theatern fern wie die der älteren deutschen Autoren“. So schrieb Ronald Hayman in der englischen Sonntagszeitung ‘The Observer’ im Sommer 1983, als das erste Stück von Botho Strauß, des (laut Hayman) “führenden deutschen Bühnendichters”, in einem englischen Theater gespielt werden sollte – fünf Jahre nach seiner spektakulären Uraufführung an Peter Steins Schaubühne, also jenem Theater, das britischen Kritikern, sofern sie gelegentlich nach ‘Europa’ reisen, als das beste in deutschen Landen erscheint.

Fünf Jahre, das sind nach englischen Maßstäben keine lange Zeit, wenn man bedenkt, daß klassische Bühnenwerke der deutschen Literatur (wie Schillers ‘Räuber’ oder Kleists ‘Penthesilea’) buchstäblich Jahrhunderte auf ihre britische Erstaufführung warten mußten. Erstaunlich war eigentlich nur die Tatsache, daß nicht etwa das Nationaltheater, die Royal Shakespeare Company, das Royal Court oder eines der großen Theater außerhalb Londons auf den Gedanken gekommen war, ein Stück des schwierigen Botho Strauß auf eine britische Bühne zu bringen, sondern ein kommerzielles Unternehmen, das mit Glenda Jackson in der Hauptrolle im Londoner Westend auf seine Kosten zu kommen glaubte und damit finanziell auf die Nase fiel.

‘Groß und Klein’ in der Inszenierung von Keith Hack wurde in der Provinz, wo man sie ausprobierte, bevor man sie in London zu zeigen wagte, vom Publikum ausgebuht und handelte sich von Seiten der Kritiker die widersprüchlichsten Urteile ein. “Das bemerkenswerteste, originellste und unterhaltsamste neue Theaterstück, das es zurzeit in London zu sehen gibt“, verkündete Michael Billington im ‘Guardian’. – “Glenda Jacksons unvergleichliche Darstellung trifft den zentralen Nerv der pessimistischen Vision des Autors”, hieß es in der ‘Financial Times’, “ein Stück von wahrlich poetisch-dramatischem Gewicht“.

Da ich selbst frustriert, verärgert, erschöpft und gelangweilt nach der Hälfte der Vorstellung ins Freie geflüchtet war, schien mir der Kritiker des ‘Observer’ die Sache ein wenig genauer erfaßt zu haben. Unter der Überschrift ”The Killing of Botho Strauß” teilte er mit: “Die leichtfertig zusammengestutzte, glitzernde Fassung des Stückes, die uns bezeichnenderweise im Vaudeville-Theater mit der fehlbesetzten Glenda Jackson zugemutet wird, hat so viel Ähnlichkeit mit dem Straußschen Original wie eine Obstattrappe mit einem echten Pfirsich ... Keith Hack hat das Mitgefühl des Autors für Lottes spirituelles Verlangen unkenntlich gemacht und zeigt die Gestalt stattdessen wie die Fallstudie einer Zeugin Jehovas ... Es ist eine schamlose Inszenierung, bei der man heulen möchte über das verschandelte Stück von Botho Strauß“.

Dreieinhalb Jahre nach dem problematischen ersten Versuch hat sich das kleine, für seinen Mut und die künstlerische Qualität seiner Aufführungen inzwischen berühmte Almeida-Theater im Nordlondoner Stadtteil Islington zu einer Ehrenrettung des deutschen Autors entschlossen. Die britische Erstaufführung des Dreipersonenstückes ‘Die Fremdenführerin’ ist von fast atemberaubender Dynamik und Intensität. Dem Regisseur Pierre Audi und seinen Protagonisten Tilda Swinton und Paul Freeman ist eine dichte, intelligente, gestisch, sprachlich und musikalisch minutiös durchgearbeitete Inszenierung gelungen, die die geistige Struktur des Werkes offen legt und dieser Liebesgeschichte, die mir beim Lesen des deutschen Textes (nicht zuletzt wegen seiner leicht kunstgewerblerisch anmutenden Sprache) stellenweise als etwas banal erschienen war, politische Tiefe gibt und das Stück fast zur Tragödie macht: zur Geschichte einer qualvollen, unmöglichen Liebe von Mann und Frau, einem Drama aus dem Geiste Strindbergs.

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