Das Half Moon Theatre ist zwei Jahre alt, haust in einer ehemaligen Synagoge des Londoner Eastends und lebt finanziell sozusagen von der Hand in den Mund. Das heißt, es geht ihm wie anderen Kleinbühnen, die unter ähnlich bescheidenen Verhältnissen operieren und einen winzigen staatlichen Zuschuß erhalten, mit dem sie nicht leben, doch auch nicht sterben können, solange die Schauspieler und ihre künstlerischen und technischen Helfer bereit sind, für Gagen zu arbeiten, die sie zu Proletariern dritter Klasse machen.
Das Half Moon Theatre, in einem der wirklich noch armen Arbeiterviertel gelegen, ist klassenbewußt proletarisch. Sein Programm ist anspruchsvoll, richtet sich aber in erster Linie an die einheimische Bevölkerung. Stepney ist kulturelles Notstandsgebiet. Das Theater hat hier noch eine Funktion als Vergnügungsstätte wie als Organ für kritische Aufklärung.
Vor zwei Jahren eröffnete man mit Brechts ‘Im Dickicht der Städte’; jetzt brachte das Half Moon Theatre ‘Die Mutter’ von Bertolt Brecht in einer neuen Übersetzung von Steve Gooch. Das Stück, 1930/32 gegen Ende der Lehrstückphase des Autors entstanden, stellt Regisseur und Schauspieler vor besondere Probleme. Es zeigt, wie die Mutter eines jungen russischen Revolutionärs von anfänglichem Mißtrauen allmählich immer mehr in die politische Arbeit ihres Sohnes hineingezogen wird, lesen und schreiben lernt, ihre Rolle im Klassenkampf begreift und nach der Erschießung des Sohnes die Botschaft vom Kommunismus unter die Leute zu bringen hilft, die Lehre von jenem Vernünftigen und Einfachen, “das schwer zu machen ist”.
Dramaturgische Technik und Sprache des Stückes sind schmucklos schlicht, informativ; wie die Mutter im Stück soll das Publikum lernen, daß die Revolution nicht nur real möglich, sondern zur Beseitigung von Unrecht und Elend auch nötig ist. Die äußere Schmucklosigkeit und Kargheit der szenischen Vorgänge und ihrer Darstellung kann trocken wirken, langweilig und naiv, wenn es den Schauspielern nicht gelingt, die politische Botschaft so überzeugend, leicht und natürlich an den Mann zu bringen, daß der Zuschauer sie versteht und damit selbst Partei ergreift. Auch dies eine Sache, die schwer zu machen ist.
Steve Gooch hat eine Übersetzung geliefert, die den Ton und die knappe Diktion des Originaltexts auf bewundernswerte Weise trifft und doch nie spröde und trocken wirkt. In der Inszenierung von Jonathan Chadwick sind die vierzig Rollen des Stückes auf zehn Darsteller verteilt, die zudem während der Aufführung für alle szenischen Umbauten sorgen. Keiner der Schauspieler ist älter als dreißig Jahre. Als Musikbegleitung dient ein altes verstimmtes Klavier, gespielt vom Komponisten der neu vertonten Lieder.
Szenisch beschränkt man sich auf ein Minimum an Mobiliar, das im Stück unentbehrlich ist; Projektionen auf ein über der Szene dachartig aufgehängtes Tuch; zwei halbhohe Vorhänge; ein Spielpodest ohne Hinterbühne: Reduktion auf minimale Erfordernisse, die dem Stück keineswegs schadet.
Die Kritiker sprachen nachher von einer “bewundernswerten Inszenierung”, “eine der besten Brecht-Inszenierungen in England seit langer, langer Zeit”. Angesichts der Fehlbesetzung der Titelrolle, einer nicht eben hilfreichen, die Texte verschleiernden Musik und wenig differenzierter Dialogregie ein erstaunliches Resultat.
Obwohl der Erfolg vor allem Steve Gooch und seiner hervorragenden Übersetzung von Herzen zu gönnen war, zeigt sich im Mißverhältnis zwischen der künstlerischen Qualität der Inszenierungen und dem übertriebenen Lob der Kritiker ein Problem allgemeinerer Art.
Im Umgang mit Brecht tut sich das englische Theater schwer. Diese weithin bekannte Tatsache, die von Künstlern und Kritikern wieder und wieder untersucht und diskutiert wurde, ist dadurch kaum verständlicher geworden. Das Problem ist komplex und nicht leicht zu erklären.
Als das Berliner Ensemble in den fünfziger Jahren erstmals nach England kam, wurde es so überschwänglich bejubelt wie keine andere Bühne aus dem Ausland, die nach dem Krieg in London gastierte. Noch heute sprechen Kritiker davon als dem wahrscheinlich bedeutendsten Einfluß auf das britische Theater nach 1945. Dieser Einfluß zeigte sich zunächst in den zahlreichen Versuchen, Brechts Stücke aufzuführen; er zeigte sich in den Stücken der englischen Autoren, die kein Hehl daraus machten, von Brecht gelernt zu haben (John Arden und Edward Bond zum Beispiel wären wohl ohne diesen Einfluß nicht, was sie geworden sind); schließlich beeinflußte die Darstellungsweise des sogenannten epischen Theaters auch den lnszenierungsstil und die schauspielerische Präsentation, eine Entwicklung, die sich bis heute, bis zu den Arbeiten verschiedener Experimentiertheatertruppen fortgesetzt hat.
Diesen positiven Momenten steht die Tatsache gegenüber, daß es bisher kaum eine Brecht-Inszenierung in England gegeben hat, die als wirklich authentisch gelten konnte. Mit einer einzigen Ausnahme – einer ausgezeichneten Fernsehfassung des ‘Arturo Ui’ – gerieten sämtliche Inszenierungen, die ich in den letzten Jahren in London sah, entweder ins oberflächlich Lustspielhafte (wie selbst Bill Gaskills ‘Mann ist Mann’ im Royal Court Theatre) oder sie wirkten hölzern, prosaisch und unbeholfen.
Welche Gründe es dafür gibt? Nun, sehr vereinfacht gesagt: Dem Engländer liegt es nicht, die Dinge sehr ernst zu nehmen; er liebt das Leichte, Spielerisch-Harmlose, auch Oberflächliche und mißversteht Ernst nicht selten als Schwere und Schwere als Schwerfälligkeit, die, wie er wohl nicht ganz zu Unrecht glaubt, für die Deutschen bezeichnend sei. Gegen alle Vorurteile vom ‘steifen, nüchternen Briten’ macht ihm gerade die Nüchternheit der Brechtschen Stücke zu schaffen, die puritanische Strenge und Kühle der Texte, sowie jene Form von rationaler Geistigkeit, die seiner Mentalität fremd ist. Dazu kommt der didaktische Gestus der Sprache und der epische Darstellungsstil, die distanzierte Haltung des Schauspielers zur Rolle, bei deren Präsentation er gleichwohl nichts von seiner Natürlichkeit preisgeben soll. Die selbst in Deutschland noch üblichen Mißverständnisse im Hinblick auf Brechts theoretische Schriften scheinen sich in England zu potenzieren. Die Sprödigkeit der Charaktere, das Unsentimentale an ihnen, ihre Geradlinigkeit und Durchschaubarkeit macht sie, so seltsam das klingen mag, schwerer verständlich. Möglich sogar, daß die Faszination, die das Brechtsche Theater ausstrahlt, gerade mit seiner Fremdartigkeit zu tun hat.
Die Auseinandersetzung mit Brecht ist jedenfalls in England noch nicht abgeschlossen. Um über ihn hinaus zu gelangen, wird man – wie andernorts – erst einmal auf ihn zurückkommen müssen. Wirklich gute Übersetzungen, die dem Original gerecht werden und von englischen Schauspielern sprechbar sind, sind dafür die wichtigste Voraussetzung.