die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1993
Text # 357
Autor Jacob Michael Reinhold Lenz
Theater/ Edinburgh Festival
Titel Die Soldaten
Ensemble/Spielort Glasgow Citizens’ Theatre Company/Edinburgh International Festival
Inszenierung/Regie Tony Graham/Bb. Sally Jacobs
Hauptdarsteller Philip Prowse
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1993.09.06/SWF Kultur aktuell/WDR/RIAS/ Nachdruck: Darmstädter Echo

Als ich gegen Ende der letzten Woche von einem Schotten gefragt wurde, was ich vom offiziellen Programm des diesjährigen Edinburgh Festival halte, kam mir dabei zunächst nur zweierlei in den Sinn: die Enttäuschung darüber, daß gerade die Aufführungen, die man im vorhinein zu den möglichen Höhepunkten des Festivals gerechnet hatte, nicht hielten, was sie versprachen – und dies galt vor allem für Peter Steins aus Salzburg übernommenen ‘Julius Cäsar’ und Thomas Langhoffs ‘Zerbrochenen Krug’ vom Deutschen Theater Berlin, die beide nur dazu angetan waren, alte britische Vorurteile über germanische Schwerfälligkeit und Humorlosigkeit zu bestätigen – und, auf der anderen Seite, die angenehmste Überraschung, zwei schottische Inszenierungen, die mir viel besser gefallen hatten als die großen Vorzeigestücke der ausländischen Starregisseure, um die so viel Aufhebens gemacht worden war. Die neue Bühnenfassung der Romantrilogie ‘A Scots Quair’ von Lewis Grassic Gibbon, vorgestellt von dem Ensemble der Glasgower TAG Theatre Company, und die britische Erstaufführung der ‘Soldaten’ von dem hierzulande so gut wie unbekannten Jakob Michael Reinhold Lenz in der Inszenierung der Glasgower Citizens’ Theatre Company unter der Leitung von Philip Prowse zählten für mich zu den Höhepunkten des diesjährigen Festivals.

Was ‘Die Soldaten’ anging, so schien mir, das die meisten meiner britischen Kollegen mit dem vor zweihundert Jahren geschriebenen Stück eines selbst in Deutschland kaum gespielten Autors herzlich wenig anzufangen wußten und darum auch die Qualitäten der Inszenierung nicht richtig einschätzen konnten. Immerhin war ihnen aufgefallen, daß der obskure Autor wegen seiner gesellschaftskritischen Haltung und der von ihm verwendeten, für die damaligen Verhältnisse nicht minder revolutionären dramatischen Ausdrucksmittel seiner Zeit weit voraus gewesen sein mußte. Einige wiesen darauf hin, daß Lenz auf Büchner und Brecht eingewirkt und in den ‘Soldaten’ ein Thema aufgegriffen habe, das auch andere bedeutende Stückeschreiber, zum Beispiel Tschechow und Marieluise Fleißer, beschäftigte: die verheerende Wirkung von Soldaten auf die weibliche Bevölkerung einer Garnisonsstadt.

Die Aufführung beginnt mit einem eindrucksvollen Coup de théâtre. Man blickt auf einen riesigen, die ganze Breite und Höhe der Bühne füllenden Zenotaph, auf dem alle großen Kriege und Schlachten der Weltgeschichte wie die Namen gefallener Soldaten aufgezeichnet sind. Die in steiler Schräge zur Rampe hin geneigte schwere, dunkle Marmorplatte wird hochgezogen und ist nun die Decke eines lichtdurchfluteten Raumes mit hellgrauen Wänden, vor denen im Folgenden sämtliche Innen- und Außenszenen des Stückes ablaufen. Sie greifen ineinander wie die Räder eines präzise funktionierenden Uhrwerks. Es ist eine Inszenierung, die vor allem durch Leichtigkeit und Klarheit besticht und der es in erstaunlichem Maße gelingt, soziale Strukturen sichtbar zu machen und das herauszuarbeiten, was Brecht den gesellschaftlichen Gestus der Rollen nannte. Dabei entstehen immer wieder verblüffende, visuell außerordentlich reizvolle szenische Konstellationen. Der trockene Tonfall, in dem die Dialoge gesprochen werden, schützt vor Sentimentalitäten und macht selbst die melodramatischen Momente des Stückes erträglich.

Daß die Zivilisten im Stück mit einem nordirischen Akzent sprechen, soll auf Parallelen zur Situation, in der sich die britischen Soldaten in den Garnisonsstädten der Provinz Ulster befinden, deuten. Zu Beginn des Stückes tragen die Soldaten historische Uniformen des 18. Jahrhunderts, gegen Ende die schwarzen Uniformen der SS. Es ist ein Regieeinfall, der erst mit den letzten Worten des Stückes als bittere Pointe aufgeht, wenn der Kommandeur der Truppe vorschlägt, der König solle zum Schutze der braven Bürgerstöchter für das Militär staatlich geführte Bordelle einrichten und die darin gezeugten Kinder als natürlichen Nachwuchs einerseits für die Armee, andererseits für das weibliche Personal der Eroszentren betrachten. Eine Pointe, die in Schottland, wo man über die Einrichtung der Lebensborn-Heime für die SS noch nichts gehört zu haben schien, leider nicht verstanden wurde.

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