‘Caritas’, das neue Stück von Arnold Wesker, ist nur anderthalb Stunden lang und doch ein gewaltiges Werk. Mit starken poetischen Gesten und Bildern von karger, eindringlicher Schönheit beschwört es die seelischen Qualen eines gefangenen Menschen. Die Ereignisse, auf die es zurück geht, sind historisch belegt. Unlängst aufgefundene Dokumente bezeugen, das sich im Jahre 1329 in dem Dorf Shere der englischen Grafschaft Surrey ein junges Mädchen namens Christine Carpenter nach Ablegung eines heiligen Gelübdes mit dem Segen der Kirche in einer lichtlosen Zelle einmauern ließ. Sie hatte gelobt, der Welt zu entsagen und solange sie lebe in ihrem Verließ zu bleiben, um dort mit Gebeten und Lobgesängen Gott zu dienen. Die Einsiedlerin soll nach drei Jahren aus der selbst gewählten Gefangenschaft ausgebrochen sein, wurde aber – vermutlich mit sanfter Gewalt – dazu überredet, in ihre Zelle zurückzukehren.
Wesker hat dieses Geschehen zeitlich um fünfzig Jahre und örtlich nach Norfolk verlagert. Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse um die Rebellion der verarmten, von ihren weltlichen und geistlichen Herren bis aufs Blut ausgepreßten Bauern tritt der Konflikt umso schärfer hervor: zwischen der weltentsagenden Liebe zu Gott und der Liebe zu seiner Kreatur, dem leibhaftigen Menschen und seiner sinnlichen Welt.
‘Caritas’ in der Inszenierung von John Madden im Cottesloe Theatre des Nationaltheaters besteht aus einer Folge kurzer, eindrucksvoller Szenen mit sanften, fließenden Übergängen. Die Bilder prägen sich ein wie die eines erschütternden Traumes. Im Halbdunkel der offenen Bühne ragt ein Gerüst, die Andeutung des Dachgestühls einer gotischen Kirche. Chorgesang und Weihrauchdüfte wehen herein. Dann der schlurfende Gang von Menschen, die sich im Inneren der Kirche versammeln, und der Auftritt des Bischofs im Ornat. Man hört einen Psalm Davids, vorgetragen im Sprechgesang der alten Liturgie. Ein Mädchen wird vor den Altar geführt und legt, während die Mutter sich weinend entfernt, ein Gelübde ab, das ihr weltliches Schicksal besiegelt.
“Sie war eigenartig von Geburt an“, murmelt der Vater, “das Kind ist seinem Ruf gefolgt“. “ Ja, dem des Teufels“, erwidert die Mutter. Gott zu dienen durch Dienst am Menschen, das verstünde sie, doch der Entschluß, sich der Welt zu entziehen, will ihr wie Wahnsinn erscheinen. “Niemals wird sie vergessen können, was sie sah“, prophezeit Robert, der Junge, der Christine liebt und darauf gewartet hatte, daß sie ihm Lesen und Schreiben beibringen würde, ein Privileg, das noch immer einer besonderen Lizenz der Kirche bedarf.
Während Christine sich ins Mauerwerk der Kirche einschließen läßt, deuten die folgenden Szenen an, was sich in der Außenwelt tut. Die protestantischen Thesen des Oxforder Professors John Wiclif breiten sich aus; staatliche und kirchliche Oppression treiben die geknechteten Bauern zum halborganisierten Aufstand, der in einem Blutbad erstickt wird. Bei dem Marsch auf London kommt auch Robert ums Leben.
Es ist der Augenblick, da Christine erkennt, daß sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen ist, und flehentlich um Befreiung bittet. Die Angehörigen bedrängen den Bischof, ihr die Erfüllung ihres Gelübdes zu erlassen; doch umsonst. Da beginnt das turmartige Verließ mit der schmalen Luke, durch welche Christine mit der Außenwelt kommuniziert, sich plötzlich zu drehen und wir sehen zum ersten Mal ins Innere ihres Kerkers, werden unmittelbar Zeugen ihrer Martern, der krassen Stimmungswechsel zwischen Raserei und stiller Ergebenheit; ihrer Halluzinationen; der Augenblicke tiefster Verzweiflung und kindlichen Glücks, etwa wenn sie einem kleinen Mädchen, das sie draußen nach dem Sinn des Lebens befragt, den Rat geben kann, statt nach dem Sinn nach seinem Zweck zu fragen: Liebe. “Nichts ist so mächtig wie die Liebe“. Durch Kasteiung versucht Christine, sich von der sinnlichen Welt zu befreien, doch in der ekstatischen Hingabe an den Gekreuzigten erlebt sie ein Gefühl der Wollust, das sie als Zerrissenheit zwischen Scham und Delirium beschreibt.
Caritas und Eros verschmelzen zu der einen Macht der Liebe, die – so scheint das Stück sagen zu wollen – sich nur durch menschliches Handeln, im Umgang mit Menschen, in ihrer Welt erfüllen kann. Für Weskers Christine scheint es keinen Ausweg zu geben, der sie in die Welt, der sie entfloh, zurückführen könnte. Über dem bis in alle Ewigkeit wiederholten Gemurmel der Worte “da ist eine Wand und da ist eine Wand und da ist eine Wand ... “ versinkt sie im Dunkel.
Vor allem durch die Intensität der Szenen des zweiten Teils und die virtuose, ungemein nuancenreiche Darstellung (mit Patti Love in der Rolle des Mädchens Christine) wurde das schwierige Stück im Cottesloe Theatre zu einem beachtlichen Erfolg.
Wesker hat lange darauf warten müssen. Fast ein Vierteljahrhundert ist seit der Premiere seines ersten Stückes ‘The Kitchen’ vergangen, dem vierzehn weitere Dramen folgten. Sie bestätigten Arnold Weskers Ruf als einem der drei bedeutendsten Bühnenautoren seiner Generation, doch seit dem Anfang der siebziger Jahre ist es stiller um ihn geworden. Seine vier letzten Stücke haben noch keine Londoner Bühne gefunden. Ob ‘Caritas’ für Wesker ein neuer Anfang ist, wie einige der englischen Kritiker hoffen, bleibt abzuwarten.