die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1997
Text # 292
Autor Georg Büchner
Theater
Titel Dantons Tod
Ensemble/Spielort Gate Theatre/London
Inszenierung/Regie David Farr
Neuinszenierung
Sendeinfo 1997.09.27/SDR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Das 1979 gegründete Gate Theatre im Westlondoner Bezirk Nottinghill Gate gilt als eines der wagemutigsten Theater der britischen Hauptstadt. In einer Theaterlandschaft, in der man sich mit der Aufführung ausländischer Bühnenwerke noch immer schwer tut, hat sich das Gate als einzige Bühne in Großbritannien, auf der nur ausländische Stücke gespielt werden, über die Jahre einen Namen gemacht und für seinen anspruchsvollen Spielplan und das bemerkenswert hohe Niveau seiner Inszenierungen allein seit 1990 nicht weniger als achtzehn Preise und Auszeichnungen gewonnen. Da das Gate Theatre so gut wie keine regelmäßigen Subventionen aus öffentlichen Mitteln erhält, ist es auf das Wohlwollen privater Sponsoren angewiesen sowie auf die Selbstlosigkeit und den Idealismus seines künstlerischen und technischen Personals.

Was hier unter anderswo unvorstellbaren Bedingungen hin und wieder gelang, grenzte ans Wunderbare. Konsequent auf dem Weg zu neuen Zielen, die unerreichbar erscheinen, hat sich das Gate Theatre in diesem Herbst auf ein besonders ehrgeiziges Projekt eingelassen, eine ‘Georg-Büchner-Saison’, in deren Rahmen zum ersten Mal alle drei Bühnenwerke des deutschen Dichters nacheinander vorgestellt werden sollen. Unter den gegebenen Umständen ein tollkühnes Unterfangen.

‘Woyzeck’, das einzige Stück von Büchner, das ab und zu von britischen Theatern aufgeführt wird, und das hierzulande fast unbekannte Lustspiel ‘Leonce und Lena” lassen sich auch auf kleineren Bühnen realisieren. Aber kann und darf man ein Werk wie ‘Dantons Tod’, diesen großformatigen theatralischen Bilderbogen mit seinen dreißig Rollen und zahllosen Nebenrollen, dessen Stil man als ‘Komponieren in Massen’ beschrieben hat, in ein so winziges Gehäuse zwängen, in einen Raum, der für Bühne und Publikum zusammen nur sechzig Quadratmeter hat?

David Farr, der künstlerische Leiter des Gate Theatre und Regisseur von ‘Dantons Tod’, womit die Reihe eröffnet wurde, hat das große Drama auf hundert Minuten verkürzt. Nur acht Darsteller, sechs Männer und zwei junge Frauen, spielen sämtliche Haupt- und Nebenrollen des Stückes. Bühnenbildner Anthony McIlwaine hat die Sitzreihen entfernt und dadurch Platz gewonnen für einen Innenraum, der angefüllt ist mit grauen Würfeln, auf denen das Publikum sich niederläßt. Dieser Raum wird zum Salon des Jakobinerclubs, zum Gerichtssaal oder Platz vor dem Schafott, das in der Mitte der kaum zwei Meter tiefen Rampe aufgestellt ist, die diesen Innenraum von vier Seiten umgibt und als seichte Bühne für die zahlreichen Spielorte des Stückes dient.

Durch geschickte Lichtwechsel wird die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf einen bestimmten Abschnitt der Bühnenrampe gelenkt, während in anderen Teilen die Schauspieler im Halbdunkel sich für ihre nächste Szene rüsten. Alle Reden werden von erhöhtem Podest direkt ins Publikum gesprochen, als gehörten auch wir zur Masse des Volkes, das mit Zwischenrufen, Beifall und Buhgeschrei, über Lautsprecher eingespielt, an den Vorgängen teilnimmt.

Die farcehaften Einlagen, kurze Straßenszenen mit Bürgern, Dirnen und Soldaten, die ihre vulgären Späße treiben, werden von den acht Darstellern in groben halbrealistischen Masken gespielt. In anderen Szenen helfen schnelle Kleiderwechsel, verstellte Stimmen und Dialekte über die Not, daß so wenige Darsteller für so viele Rollen zur Verfügung stehen müssen.

Was sie dabei zustandebringen, ist beachtlich, führt aber in den Nebenrollen unweigerlich zum sogenannten Chargieren und schränkt in den großen Rollen den Spielraum der Ausdrucksmöglichkeiten ein. So interessant es sein mag, die Protagonisten des Stückes einmal von Darstellern gespielt zu sehen, deren jugendliches Alter dem der historischen Vorbilder entspricht, so deutlich wird auch, warum man die großen Rollen sonst reiferen Schauspielern überläßt, die durch das Gewicht ihrer Persönlichkeit sie überzeugender darstellen können.

Die von Regisseur David Farr erarbeitete Kurzfassung des Textes klingt schnörkelloser, direkter und viel moderner, aber wie nicht anders zu erwarten auch prosaischer als das deutsche Original. Mein Haupteinwand gegen die – sonst im großen und ganzen durchaus bewundernswerte – Inszenierung wäre, daß sie den poetischen Qualitäten des Textes nicht gerecht wird.

Sollte man raten, auf den Versuch der Aufführung bedeutender Bühnenwerke zu verzichten, wenn man nicht auch die Möglichkeit hat, sie unter optimalen Bedingungen vorzustellen? Ich meine nein. Wenn sich die großen Theater, die dazu in der Lage wären, nicht bemüßigt fühlen, so wichtige Stücke des klassischen Repertoires anderer Länder von Zeit zu Zeit auf die Bühne zu bringen, verdient ein kleines Theater, das mit den bescheidenen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, sich zu einer solchen Geste der Wiedergutmachung entschließt, dafür nur Lob und Bewunderung. Solange nur etwas von der Substanz des Werkes erhalten bleibt, ist ein reduzierter Büchner, ein ‘Danton’ im Westentaschenformat, wohl immer noch besser als gar kein Büchner.

Nach Oben