die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1995
Text # 343
Autor Cornelia Parker/Tilda Swinton
▶ Tonaufnahme/ Ausstellung
Titel The Maybe
Ensemble/Spielort Serpentine Gallery/London
Hauptdarsteller Tilda Swinton
Sendeinfo 1995.09.07/SWF Kultur aktuell/WDR Budengasse/Nachdruck: Darmstädter Echo
Tonaufnahme ▶ Originaltonbeitrag

Selten hat eine Ausstellung zeitgenössischer Kunst in einer der großen Londoner Galerien schon Wochen vor der Eröffnung soviel Aufsehen erregt wie die Installation unter dem merkwürdigen Titel ‘The Maybe’ (Das Vielleicht) von zwei Frauen, die aus verschiedenen künstlerischen Bereichen kommen und gemeinsam ein Projekt entwickelt haben, dessen Anziehungskraft vor allem der Tatsache zugeschrieben werden darf, daß eines der in Vitrinen ausgestellten Artefakte ein lebender Mensch ist – die Schauspielerin Tilda Swinton.

Dutzende von Fotografen, Kameraleuten und Journalisten sowie mehrere hundert neugierige Zuschauer fanden sich am vergangenen Montagmorgen vor der Serpentine Gallery im Londoner Hyde Park ein, um auf die Eröffnung der angekündigten Installation von Cornelia Parker zu warten und die schöne Tilda wie Schneewittchen in einem gläsernen Sarkophag schlafen zu sehen.

In dem von der Serpentine Gallery herausgegebenen Handzettel hieß es: “Für sieben Tage, acht Stunden lang, ist Tilda Swinton in ‘The Maybe’ zu sehen, einem rätselhaften und evokativen Werk, das einer Reihe von essentiellen Fragen nachgeht, auf die es keine Antworten gibt. Eingeschlossen in ihrem gläsernen Sarg existiert sie als ein Objekt der Betrachtung wie auch als Subjekt ihrer eigenen Geschichte”.

Das klang so geheimnisvoll und verlockend, daß das britische Fernsehen in den Hauptabendnachrichten das ‘Mädchen im gläsernen Käfig’ vorstellte und am nächsten Morgen alle großen Londoner Zeitungen im Nachrichtenteil mit Texten und Bildern das Ereignis kommentierten.

Das Projekt, auf das sich Tilda Swinton durch Veränderung ihrer Schlafgewohnheiten wochenlang vorbereiten mußte, gehört zu einer Tradition, die heute als Concept Art, Performance Art oder Life Art bezeichnet wird und vermutlich 1958 begann, als Ives Klein eine leere Galerie mit weißen Wänden und blau bemalten Fenstern vorstellte. Ende der Sechzigerjahre gab Donald Judd eine neue Definition dessen, was unter Kunst zu verstehen sei: “Kunst ist, was einer als Kunst bezeichnet“.1969 erklärten die Engländer Gilbert und George sich selbst zum Kunstwerk und traten mit goldbemalten Gesichtern als singende Skulptur auf. Die spanische Künstlerin Rosa Sanchez ließ sich 1991 in einer Installation mit dem Titel ‘Natura Morte’ in der Londoner Serpentine Gallery, nackt zwischen verfaulenden Früchten auf einer festlich gedeckten Tafel liegend, als lebendiges Kunstwerk bewundern.

‘The Maybe’ besteht aus über zwanzig Glasbehältern mit authentischen Gegenständen, die eine gewisse historische Bedeutung haben, weil sie zu berühmten Personen gehörten und darum allen, die deren historischen Hintergrund kennen, eine Geschichte zu erzählen haben; eine Geschichte aus der Vergangenheit, die durch den Anblick der leblosen Objekte in uns Assoziationen auslöst und damit wieder lebendig wird.

Zu den ausgestellten Gegenständen gehören unter anderem ein kleiner Perserteppich mit Kissen von der historischen Couch, auf der Sigmund Freud seine Patienten bettete; die Schultafel der Florence Nightingale, die, wie es heißt, mit ihrem Team von Krankenschwestern dafür sorgte, daß die Sterberate unter den Verwundeten des Krimkrieges von 42% auf 2% gesenkt werden konnte; ein kleines Fragment von dem Flugzeug, mit dem Lindbergh zum ersten Mal den Atlantik überquerte; die letzte Ration des Antarktisforschers Scott, der 1912 nach Erreichung des Südpols in einem Schneesturm umkam und in dessen Zelt die mit Wachs versiegelten Päckchen mit Tee, Curry und Salz gefunden wurden; ein Stück Stoff aus dem Umhang, den die Oberschwester Edith Cavell bei ihrer Hinrichtung trug (sie hatte im ersten Weltkrieg alliierten Soldaten zur Flucht aus dem Brüsseler Lazarett, das sie leitete, verholfen und war dafür von den Deutschen zum Tode verurteilt worden); die mit dem Namen Robert Maxwell beschrifteten Leisten des Schusters, bei dem der 1991 ertrunkene britische Zeitungsmagnat seine maßgeschneiderten Schuhe fertigen ließ; die Mütze, die der 1871 auf der Suche nach der Quelle des Nils verschollene Dr. Livingstone trug, als er von Stanley schließlich gefunden wurde, und dessen Tropenhelm; ein schwarzer Seidenstrumpf von Königin Victoria mit Krone und Monogramm; die Schlittschuhe der zweimal geschiedenen Mrs Simpson, der späteren Herzogin von Winsor, für die Edward VIII 1937 auf den britischen Thron verzichtete; die Feder, mit der Charles Dickens an seinem letzten, unvollendeten Roman schrieb, als er 1870 starb; und die Zigarre, die Churchill fallen ließ, als er 1945 von deutschen Friedensangeboten erfuhr.

Das einzige Exponat, das mit der schlafenden Tilda den Raum teilen darf, ist zugleich eines der sonderbarsten: ein ‘Sadie’s Picture’ betitelter Karton unter Glas mit dekorativ angeordneten Kratzspuren, die von einer Hündin namens Sadie über einen Zeitraum von drei Jahren hergestellt wurden, als sie durch ein höher gelegenes Fenster jeden Tag in den Garten sprang.

Neben den schweigsam-beredten Relikten verstorbener Persönlichkeiten liegt die schlafende Tilda in ihrem gläsernen Käfig und spricht wortlos, doch unmißverständlich klar die Sprache der Lebenden. Ich wüßte kein weibliches Wesen, das sich ungeschminkt schlafend, leger gekleidet in einer Vitrine vor Publikum ausstellen lassen könnte und dabei in jedem Augenblick, in jeder Lage und Haltung so bezaubernd schön und graziös erscheinen würde. Die schlanke Gestalt mit dem feingeschnittenen Gesicht und den langen dunkelroten Haaren strahlt eine fast überirdische Ruhe aus.

Kein Wunder also, daß manche Zuschauer lange Zeit wie gebannt vor dem großen Glasbehälter standen und sich von dem Anblick nicht lösen konnten. Als sie um sechs Uhr abends aufgefordert wurden, den Raum zu verlassen, weil die Galerie schließen wollte, stürzten einige von ihnen nach draußen, um durch die hohen Fenster zu sehen, wie die schöne Gestalt erwachen und ihr Gehäuse verlassen würde. Die Hoffnung, auch nur einen Zipfel des großen Geheimnisses lüften zu können, wurde ihnen versagt, als die beiden Aufseher, die das schlafende Mädchen den ganzen Tag über bewacht hatten, die weißen Rollos vor den Fenstern herunterließen.

Die immer wieder gestellte Frage, ob das Ereignis als Kunst gelten könne, schien auf einmal jede Bedeutung verloren zu haben. Der Autor eines Leitartikels der Londoner Zeitung ‘The Guardian’ unter der Überschrift “Maybe it’s art, maybe it isn’t” entschied: “Daß Ms Swinton selbst ein Kunstwerk ist, steht außer Zweifel. Schon ihr Name ist ein Gedicht, und selbst in ihrem anspruchslosen blauen Hemd mit blauer Hose könnte sie einem Gemälde von Botticelli entsprungen sein”. Und er fügte hinzu: “Wenn die Woche zu Ende geht, dürfte das Kunstwerk nicht mehr dasselbe sein wie zu Beginn, nämlich älter und wahrscheinlich auch etwas leichter. Der lebende Körper trägt das künstlerisch Vergängliche in sich”.

 

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