die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1998
Text # 296
Autor David Hare
Theater
Titel Via Dolorosa
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Stephen Daldry
Hauptdarsteller David Hare
Uraufführung
Sendeinfo 1998.09.08/DRB/SWF Kultur aktuell/WDR Kritisches Tagebuch (Nachdruck von ‘Darmstädter Echo’ abgelehnt = politische Zensur)

Der inzwischen berühmte dramatische Monolog ‘The Fever’ (Das Fieber) von Wallace Shawn ist ein Stück, das uns, die Privilegierten der Ersten Welt, zu Mitschuldigen erklärt an den Verbrechen, die in den armen Ländern der Dritten Welt tagein, tagaus begangen werden. Offenbar angeregt von dem politischen Engagement seines amerikanischen Kollegen und Freundes Wallace Shawn und dessen im besten Sinne des Wortes revolutionären Stücken, bekennt sich der englische Dramatiker, Filmautor und Regisseur David Hare nun zu einem Text, der ihm erlaubt, eindeutiger und ausdrücklicher, als dies sonst bei Theaterstücken der Fall ist, politisch Farbe zu bekennen.

Als der Staat Israel sein 50-jähriges Jubiläum feierte, entschloß sich der 50-jährige englische Autor zu einer Reise in das seit Aufgabe des britischen Mandats umstrittene Palästinagebiet, um sich auf beiden Seiten – bei Israelis und Palästinensern – mit eigenen Augen und Ohren über den Stand der Dinge zu informieren. Was er dabei erlebte und in vielen Gesprächen mit prominenten Vertretern aus beiden Lagern zu hören bekam, fand seinen Niederschlag in dem Monologstück ‘Via Dolorosa’, worin sich der Autor David Hare persönlicher und direkter mitteilt, als in jedem anderen seiner Werke. Das Thema schien ihm so wichtig zu sein, daß er sich entschloß, wie seinerzeit Wallace Shawn in ‘The Fever’, den in der Ich-Rede geschriebenen Text selbst zu sprechen.

Nach ein paar verlegenen Bemerkungen über sich selbst in der ungewohnten Rolle als Darsteller und einem kurzen geschichtlichen Überblick beginnt Hare, von den auf seiner Reise geführten Gesprächen zu berichten: mit dem jüdischen Regisseur Eran Baniel und seinem arabischen Kollegen George Ibrahim, die gemeinsam die historische Inszenierung von ‘Romeo und Julia’ zustande brachten, in der die von Juden gespielten Capulets den von Palästinensern gespielten Montagues gegenüberstanden; mit den jüdischen Einwanderern, die ihm erklären, daß sie die “seelenlosen” USA verlassen haben, um ihren “Beitrag zu leisten“ bei der Besiedlung von Land, das Israel nicht gehört; mit dem Abgeordneten der Knesset Benni Begin, der jedes an den Arabern verübte Unrecht mit Zitaten aus dem Alten Testament zu rechtfertigen sucht; mit prominenten Palästinensern, die die Korruption der Arafat-Clique verurteilen und für die Reformierung der palästinensischen Führung kämpfen; und mit der mutigen ehemaligen israelischen Ministerin Shulamit Aloni, die den Mord an Rabin und die Politik Netanyahus für alle Rückschritte in den Friedensverhandlungen verantwortlich macht.

Hare läßt uns wissen, daß seine Frau Jüdin ist, die mit ihrer Familie vor den Deutschen aus der Türkei fliehen mußte. Sie habe einen Nicht-Juden geheiratet, eine ihrer Cousinen einen Schwarzen, eine andere einen Araber. Er spricht von den “heimlichen Gefühlen”, die ihn auf der Fahrt zu den jüdischen Siedlungen auf arabischem Gebiet beschlichen, daß die Juden “hier eigentlich nicht hingehören”. Er nennt es “gestohlenes Land”, “eine ständige Provokation”. Er berichtet, wie die Israelis den Palästinensern im besetzten Westjordanien das Wasser abgraben und private Schwimmbecken damit füllen, während die Bevölkerung in den verarmten Dörfern ringsum das Wasser kilometerweit in Flaschen und Kanistern herbeitragen muß. Die Einfahrt ins Gaza-Gebiet – “Israels Zwilling, seine Unterseite” – wo die Menschen in Slums hausen ohne die primitivsten sanitären Gegebenheiten, beschreibt er als “unvorstellbaren Schock”, “als führe man von California nach Bangladesh”.

Und Hare hört nicht auf, immer wieder die Frage zu stellen: “Wie soll es weitergehen?“. Oder: “Genügt es nicht, an der Klagemauer beten zu können – muß man sie auch besitzen?”.

Bei alldem ist er um ‘Ausgewogenheit’ bemüht. Hare ist ein liberaler Geist, der Rechtsverletzungen bedauert und in der Konfrontation zwischen David und Goliath mit dem Schwächeren sympathisiert. ‘Via Dolorosa’ ist sein persönliches Klagelied über einen Konflikt, den er für “lösbar” hält.

Was ihm leider fehlt (und darin liegt der ganz große Unterschied zu den Texten seines Freundes Wallace Shawn, den ich zwei Reihen vor mir sitzen sah), ist die Radikalität, die sich getraut, aus der durch persönliches Ansehen gesicherten Position des Neutralen die Wahrheit ungeschönt beim Namen zu nennen, das aus Schuldgefühlen erwachsene Tabu zu verletzen und von Verbrechen zu sprechen, wo es um nichts anderes geht, und uns zu der Einsicht zu drängen, daß wir durch schweigendes Einverständnis für die Untaten mitverantwortlich sind.

Was John Pilger von jedem ernsthaften Journalisten fordert, daß er “moralischen Mut” besitze, “den Mut, in einer Demokratie den ideologischen Müll, der die geistige Unabhängigkeit erstickt und zur Selbstzensur führt, aus dem Weg zu räumen”, darf wohl auch von einem Bühnendichter erwartet werden, wenn er sich denn schon zu einem persönlichen politischen Bekenntnis versteht.

Nach Oben