die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1989
Text # 247
Autor David Storey
Theater
Titel The March on Russia
Ensemble/Spielort National Theatre/London
Inszenierung/Regie Lindsay Anderson
Uraufführung
Sendeinfo 1989.04.08/SWF Kultur aktuell/RIAS/RB 1989.04.10/DLF/SRG Basel 1989.04.13/WDR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Die Uraufführung eines neuen Werkes von David Storey, neun Jahre nach der letzten Premiere eines Stückes des produktivsten englischen Bühnendichters der fruchtbaren sechziger und siebziger Jahre, ist ein besonderes Ereignis. Dies gilt umso mehr, als es hier auch die Rückkehr eines Theaterteams bedeutet, das zur Entwicklung eines unverkennbar eigenen Inszenierungsstils beitrug und das Royal Court Theatre in dieser Zeit zur lebendigsten und einflußreichsten Schauspielbühne in England machte. In den sieben Jahren von 1967 bis 1974 brachte das Royal Court nicht weniger als acht Uraufführungen von David-Storey-Stücken, davon sechs unter der Regie von Lindsay Anderson mit Bühnenbildern von Jocelyn Herbert. Andersons Inszenierungen der Schauspiele ‘Home’, ‘The Changing Room’, ‘The Farm’ oder ‘Life Class’ gehören für mich zu den stärksten Theatereindrücken jener Jahre.

David Storey wurde für seine Bühnenwerke, Romane und Drehbücher mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen bedacht. 1976 erhielt er den begehrten Booker-Preis. Daß seine Stücke im deutschsprachigen Bereich nur selten gespielt wurden und man behaupten darf, das deutsche Theater habe einen der bedeutendsten englischen Dramatiker der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts noch nicht entdeckt, ist schwer zu verstehen. Es liegt, wie ich vermute, einerseits an der Subtilität der Texte, ihrem gewissermaßen untheatralischen, unprätentiösen Stil, für den das auf grellere Effekte fixierte deutsche Theater kein Gespür zu haben scheint, andererseits aber auch am Fehlen eines kongenialen Regisseurs vom Format Lindsay Andersons, ein Mann, der die subtile Poesie der Texte zu lesen verstand und sie in behutsamen, rhythmisch-musikalisch virtuos gearbeiteten Inszenierungen auf die Bühne brachte.

In dem 1969 uraufgeführten Schauspiel ‘In Celebration’ geht es um eine Feier zum 40-jährigen Hochzeitstag eines nordenglischen Bergmannes und seiner Frau, ein Anlaß, der die drei Söhne ins Haus der Eltern zurückkehren läßt. In dem zwanzig Jahre später vorgestellten neuen Stück mit dem Titel ‘The March on Russia’ (Der Marsch auf Rußland) wird ein 60. Hochzeitstag gefeiert, der die entfernt lebenden Kinder, den Sohn Collin und seine Schwestern Wendy und Eileen, zum Besuch der alten Eltern veranlaßt. Obwohl es keine direkte Verbindung zwischen den inhaltlich und formal sehr ähnlichen Stücken gibt, nur “eine emotionale Kontinuität“ (wie der Autor es nennt), hat Regisseur Lindsay Anderson die Rollen der beiden Alten mit denselben Darstellern besetzt, die sie bereits vor zwei Jahrzehnten spielten.

‘The March on Russia’ ist, wie die meisten Stücke David Storeys, nach den Regeln der klassischen Dramaturgie gebaut; und wieder ist es eine Familienstudie ohne nennenswerte Handlung, bei der es eigentlich nur auf die Personen selbst und ihr Verhältnis zueinander ankommt, ihre aus der Familiengeschichte erklärbaren, zumeist unbewußten, unauflösbaren Konflikte: das Verhältnis der alten Leute; die humorlose, puritanische, ewig nörgelnde Mutter; den nach 45-jähriger Arbeit im Kohlenbergbau untertage gesundheitlich ruinierten, in den letzten Jahren etwas senil gewordenen Vater, der sich an den Erinnerungen an die Abenteuer des Krimkrieges aufrichtet; den durch seine Versetzung in den Ruhestand vollzogenen häuslichen Rollenwechsel (seither hat seine Frau das Heft in der Hand); die unterschiedlichen Reaktionen der Jüngeren auf den zermürbenden Kleinkrieg der Eltern und die Probleme der Geschwister; und schließlich den Abschied voneinander mit dem Versprechen, die Eltern häufiger zu besuchen: die Rückkehr in die eigenen Schneckenhäuser.

Wenn ich mir erlauben darf, mich selbst zu zitieren: Was Storey schreibt, wirkt mehr als bei anderen Autoren erlebt, und dies nicht nur wegen der erkennbar autobiographischen Einzelheiten. Es ist die Natürlichkeit, das Unaufwendige, die Bescheidenheit des Autors, die durch strikte Ökonomie der szenischen und sprachlichen Mittel sich ausdrückt, die Gelassenheit und innere Ruhe, die Fairness der Darstellung, welche den Eindruck des Authentischen geben.

David Storey, 1933 in Yorkshire als Sohn eines Bergmanns geboren, gilt als “einer der wenigen bedeutenden Dichter aus proletarischem Milieu seit D.H. Lawrence”. “Er ist kein politisch, aber ein in besonderem Maße sozial engagierter Autor“, erklärt Lindsay Anderson. “Er schreibt poetische Stücke, die wie bei O’Neill von der eigenen Familiengeschichte geprägt sind. Er mißbraucht das Theater nicht zur Illustration von Ideen. Aber seine Texte haben eine moralische Qualität; sie sind unerbittlich und doch voll von Mitgefühl. Sie handeln von Sachverhalten, wie ein Gedicht”.

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