die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1975
Text # 94
Autor David Edgar
Theater
Titel Death Story
Ensemble/Spielort Theatre at Newend/London
Uraufführung
Sendeinfo 1975.11.24/SWF Kultur aktuell

Eine erfreuliche Nachricht: In Hampstead wurde The Theatre at New End wiedereröffnet, das im vergangenen Jahr wegen unüberwindbarer finanzieller Schwierigkeiten die Arbeit einstellen mußte. Robert Walker, der neue Leiter der Bühne, hat sich John Ford, den ehemaligen Administrator des Theatre Upstairs, als Codirektor engagiert, mit dessen Hilfe er in Hampstead ein neues Theater der Autoren zu begründen hofft, das als Nachfolger des für die Entwicklung der jüngeren Stückeschreiber unendlich nützlichen Theatre Upstairs angesehen werden möchte.

The Theatre at New End wurde vor zwei Jahren in einer ehemaligen Leichenhalle eines alten Krankenhauses eingerichtet, mit den privaten Mitteln einer Dame, die eine gute Erbschaft gemacht hatte und bereit war, sie ihrer Leidenschaft für das Theater zu opfern. Sie entdeckte das Gebäude, erkannte seine Verwendbarkeit und ließ es zu einem höchst komfortablen kleinen Theater ausbauen, das mit seinen 100 Sitzplätzen, belegten Teppichböden, Foyer, Bar und der gepflegten Atmosphäre eines guten Hauses unter den Londoner Fringe-Bühnen wie ein weißer Rabe wirkt. Die Konzentration auf die Stücke junger Autoren wird, so hofft man, den staatlichen Arts Council zur Bewilligung einer Subvention bewegen, die dem Theater die Möglichkeit gibt, den an den Inszenierungen beteiligten Schauspielern ein Honorar zu zahlen. Bis es dazu kommt, subventionieren die offiziell als erwerbslos geltenden Schauspieler durch ihre Arbeit praktisch die Inszenierungen, an denen sie teilnehmen. Wie bei zahlreichen anderen Fringe Theatre Groups erhalten sie vom Theater nur einen Unkostenbeitrag.

Zur Eröffnung der neuen Saison brachte The Theatre at New End soeben die Londoner Premiere von David Erdgars ‘Death Story’, eine Variation des Romeo-und-Julia-Themas vor dem Hintergrund der Verhältnisse in Nordirland, die nicht zuletzt durch den Bombenterror in der britischen Hauptstadt einen besonderen Stellenwert gewonnen haben.

Die befeindeten Häuser der Capulets und Montagues werden in David Edgars Stück zu Repräsentanten verschiedener Klassen mit entgegengesetzten Interessen. Die Capulets gelten als reiche Großbürger, deren Vorherrschaft in Verona sich auf Ausbeutung gründet; die Montagues haben keinen Grundbesitz und sind als Handwerker abhängig von ihren vermögenden Auftraggebern. Damit die Gleichung einigermaßen aufgeht, wird die Besetzung Veronas durch venezianische Truppen unterstellt, die den Kampf der verfeindeten Lager schlichten sollen und dabei freilich auch eigennützige Ziele verfolgen.

Romeo, ein Montague, verliebt sich oberflächlich in die Tochter des mächtigen Capulet, scheint ihr aber weder seelisch noch sexuell gewachsen zu sein. Der Tod Mercutios und Tybalts ist das Produkt einer Fehlkalkulation des venezianischen Geheimdienstes, der durch einen Zwischenfall den Vorwand zur Ausrufung des Kriegsrechts liefern sollte. Romeo muß die Stadt verlassen und zeigt kein Bedürfnis, nach Verona zurückzukehren. Erst als der dem Paar zugeneigte Priester versichert, er habe eine Absprache getroffen, welche Romeo die Rückkehr zu Julia erlaube, die inzwischen versucht habe, Selbstmord zu begehen, und ohne ihn nicht überleben werde, läßt er sich unwillig darauf ein, wendet sich dann jedoch endgültig von Julia ab. Verzweifelt und voller Vorahnungen auf den Tod bleibt Julia allein. Der Haß des Montague gegen die Capulets ist stärker als Liebe und Versöhnung, welche die Kluft überbrücken könnten.

Nach der dramatischen Entzweiung des Paares tritt der Darsteller des Priesters an die Rampe und erklärt (wie Brechts Wasserverkäufer Wang im ‘Guten Menschen von Sezuan’), man müsse ein gutes, ein besseres Ende des Stückes finden – woraufhin Romeo und Julia die Parodie auf einen gemeinsamen theatralischen Liebestod mimen, weil, wie es heißt, es besser sei, daß alle aus Liebe stürben, statt zu überleben in Haß.

Die Idee, den klassischen Stoff im neuen historischen Kontext zu bringen, mag trotz früherer Experimente noch reizvoll sein. Doch wer sich an Shakespeare vergreift (selbst wenn er sich nur des berühmten ‘Materialwerts der Stücke’ bedient), muß wissen, was er damit tut. Edgars Transkription der Liebestragödie scheitert bereits an der Voraussetzung, der Fähigkeit des Autors, das Konzept einer glaubhaften Handlung zu entwerfen und – wenn schon die politische Parallele gezogen werden soll – das Verhalten der Personen aus dem Bereich des Banalen hinauszuführen und es für die Situation, auf die es bezogen ist, aufschlußreich, signifikant zu machen und zugleich seinem Stück eine Selbstständigkeit vom Original zu verschaffen, welche den Zuschauer von der Pflicht der unablässigen Vergleichung, der Dechiffrierung der Vorgänge entlastet.

Edgars sprachlich verfremdende Telegrammstilkürzel in überleitenden Dialogen und direkten Adressen ans Publikum informieren mühelos über verwickelte Zusammenhänge, deren ausführlichere Darstellung man sich dann erübrigen darf.

Die visuell an sich hübsch komponierte Inszenierung trägt allerdings durch Mehrfachbesetzungen der Rollen derart zur Verwirrung der Handlung bei, daß man zuweilen nur noch raten kann, was Autor und Regisseur gemeint haben mochten; ein Handicap, das auch ohne die völlig mißlungene parodistische Coda dem Stück zum Verhängnis werden mußte.

Ein trauriger Auftakt also zur neuen Saison dieses hoffnungsvollen, mutigen Theaterunternehmens, dem man für die Zukunft mehr Glück und Erfolg wünschen möchte.

Nach Oben