Jean Genets dramatische Phantasmagorie ‘Der Balkon’ ist das publikumswirksamste seiner Theaterstücke. Als es 1957 in geschlossener Vorstellung eines Londoner Theaterclubs unter Peter Zadeks Regie uraufgeführt wurde, sorgte Genet durch seine ausdrückliche Distanzierung von Zadeks Interpretation für eine Publizität, die über das bemerkenswerte Ereignis und die Neugier der Öffentlichkeit im Hinblick auf die vom Ruch des verbrecherisch Perversen umgebene Person des Dichters noch weit hinaus ging. Da kein geringerer als Jean-Paul Sartre sich zum Schutzpatron und Propheten des “Saint Genet” gemacht hatte, waren Stück und Inszenierung sofort in aller Munde. Jean Genet, der sado-masochistische Homosexuelle mit skatologischen Neigungen, dessen Name bis dahin nur wenigen bekannt gewesen war, der sich als Dieb und Totschläger gerade im Zuchthaus befand, als man seiner gewahr wurde, galt fortan als die interessanteste und größte Begabung unter den jüngeren Dramatikern.
Jean Genet hat sich bis heute allen Versuchen der Zuordnung des modernen Theaters erfolgreich widersetzt; sein literarischer Einfluß auf andere Autoren ist hingegen unverkennbar. Als Person ist er der Bürgerschreck geblieben, der er stets war, ohne Wohnsitz, ohne feste Anschrift, bald hier, bald dort plötzlich auftauchend, wenn er zufällig davon erfährt, das irgendwo eines seiner großen Stücke aufgeführt oder verfilmt wird, protestierend und remonstrierend zumeist, weil ihm die Interpretation nicht paßt, wie bei der britischen Erstaufführung seines Schauspiels ‘Die Wände’ oder bei der Verfilmung des großen Spektakels ‘Der Balkon’ – das jetzt zum ersten Mal in England unzensiert öffentlich vorgestellt wird.
Die Royal Shakespeare Company hat das Stück neu übertragen lassen; die neue Version stützt sich auf die von Genet selbst abgelehnte erste Fassung des Stückes, ergänzt durch die später geschriebenen Erweiterungen der Revolutionsszenen.Terry Hands’ Inszenierung zeigt die fantastischen Abenteuer der in Frau Irmas ‘Haus der Illusionen’ verkehrenden Gäste, ihr makaber-blasphemisches Rollenspiel auf gleicher Realitätsebene wie die Aktivitäten der Revolutionäre, die draußen mit Waffengewalt für den Umsturz der Gesellschaft kämpfen; sie spielen Revolution; die Rollen sind vertauschbar. Am Ende treten die überdimensionalen Groteskfiguren des Bordells – Bischof, General und Richter – wirklich in die Positionen ihrer ‘realen’ Vorbilder und präsentieren sich auf königlichen Balkon als die verehrungswürdigen Repräsentanten unserer Gesellschaft.
Die Kritiker der Londoner Zeitungen feierten die Inszenierung als “kühne Wiedererweckung von Genets ‘Balkon’”: ” Ein englischer Regisseur ist dem Herzen und Geist Jean Genets nahe gekommen – . . . ein englisches Ensemble hat endlich ein Maß für Genet gefunden”, “eine brillante Inszenierung”, jubelte der Kritiker des ‘Guardian’. – “Ein meisterlicher Seiltanz”, schrieb der Rezensent der ‘Times’, der jedoch im übrigen offensichtliche Mißverständnisse und Fehler der Regie sowie die Schwächen der Revolutionsszenen des Stückes kritisch wahrnimmt.
Ich selbst gestehe, daß mich die Aufführung des “Balkon“ durch die Royal Shakespeare Company trotz herrlich pompöser Szenenabläufe und hervorragender schauspielerischer Einzelleistungen einigermaßen enttäuscht hat. Terrry Hands bietet eine im Sinne des Autors zwar möglicherweise authentische Interpretation des Stückes, die aber unter sehr konkret realen gesellschaftlichen Verhältnissen – nämlich in der Welt, in der wir heute leben – mehr oder minder irrelevant bleibt: ein Spiel der Phantasie, abenteuerlich, bombastisch, theatralisch, komisch, aber politisch ohne tiefere Bedeutung. Die Inszenierung ist in vielen Details nicht genügend durchgearbeitet; das monströse Spektakel scheint dem Regisseur während der Proben einfach über den Kopf gewachsen zu sein. Wo aber die Regie den Schauspieler zu sehr sich selbst überläßt, fängt er an zu deklamieren, die Szenen werden lang und das Publikum bleibt auf der Strecke.
Wenn Irma am Ende aus ihrer Rolle als Königin und Bordellmutter fällt und an der Rampe in privat vertraulichem Ton sich ans Publikum wendet mit der Drohung, es werde, zu Hause angekommen, dort auch nichts anderes finden als jene Realität des Scheins, ein Haus der Illusionen, verrät sich der Schein solcher Wahrheit als Lüge: in der vorgetäuschten Privatheit der Geste gibt sich die theatralische Illusion als bloße Fassade zu erkennen, einer Realität nämlich, der gegenüber Flucht in die Illusion einfach fatal wäre.