Das Todesjahr der legendären Marlene Dietrich scheint, ohne daß man die Koinzidenz hätte ahnen können, zum Jahr der Wiederentdeckung des ‘Blauen Engels’ zu werden, der den Star des1930 unter der Regie von Josef von Sternberg gedrehten UFA-Films weltberühmt machte und ihr, als die Nazis kamen, den Sprung nach Hollywood ermöglichte.
Der Film basierte auf dem 1905 veröffentlichten Roman ‘Professor Unrat’ von Heinrich Mann und folgte der Geschichte des tyrannischen Schulmeisters in einer norddeutschen Kleinstadt, der den nächtlichen Abenteuern seiner verhassten Schüler nachstellt, in der Hafenkneipe ‘Zum blauen Engel’ die von allen umschwärmte Sängerin und Tänzerin Rosa Fröhlich kennenlernt, sich in sie verliebt und deswegen seine Stellung verliert.
In der von Heinrich Mann autorisierten Filmfassung von Carl Zuckmayer hieß die Tänzerin Lola Lola, und der von der ganzen Schule Unrat genannte Gymnasialprofessor Raat, gespielt von Emil Jannings, fand – zutiefst gedemütigt und dem Wahnsinn nahe – ein beinahe tragisches, Mitgefühl heischendes Ende. Der Film verkürzte die Fabel auf den Sturz des autoritären, chauvinistischen Paukers in die Niederungen der triebhaften, zurückgedrängten Sinnlichkeit. Daß der aus dem Amt verstoßene, von der Moralität heuchelnden Bürgerschaft verhöhnte Schulmeister sich am Ende zum Anarchisten mausert, der den korrupten Stützen der kleinstädtischen Gesellschaft Rache schwört und es fertig bringt, einige seiner ärgsten Feinde zu ruinieren, ging schon in der berühmten Verfilmung verloren.
Trevor Nunn, der durch seine Inszenierung der erfolgreichsten Musicals von Andrew Lloyd Webber auch finanziell reich gewordene ehemalige Intendant der Royal Shakespeare Company, einer der besten Regisseure des Landes, ließ sich von der Autorin Pam Gems den Text des ‘musikalischen Schauspiels’ schreiben, das die RSC unter Nunns Regie zunächst in Stratford auf die Bühne brachte und nun ins Londoner Globe Theatre überführt hat.
In den vor den Türen und in der Eingangshalle des Theaters ausgehängten Zitaten wird die Inszenierung als ”eine Studie erotischer Obsessionen“ gepriesen, “eine verführerische, in grimmiger Perfektion ausgeführte High-Energy-Show” von “vibrierender Theatralik”. Und vom “großartiges Zusammenspiel der Hauptdarsteller Philipp Madoc und Kelly Hunt” ist die Rede,” von einer “Star-Leistung” der neuen Lola, die neben dem großen Vorbild keineswegs verblasse.
Maria Bjornsons Bühne besteht aus einem Engagement von Torbogen und ineinander verschobenen Treppenaufgängen, die in die Kellerbar hinab, zu Lolas Schlafzimmer hinauf und bis zu den ”expressionistisch schräg” angeordneten Dachgiebeln und Straßenlampen ins Nichts zu führen scheinen. Vor den hohen Aufbauten entsteht ein Platz, der gleichermaßen für Außen- und Innenraumszenen taugt und sich mit wenigen Versatzstücken zu Straßenkulissen, Klassenzimmer, Tingeltangel-Bühne und Künstlergarderobe verwandeln läßt.
Bei der Verwandlung des komplexen, facettenreichen Romans von Heinrich Mann in ein Musical ist allerdings von der literarischen Vorlage nicht mehr viel übrig geblieben – außer der stark vereinfachten und vergröberten Moritat vom despotischen Lehrer, der sich in ein loses Frauenzimmer verliebt, sie heiratet, für kurze Zeit ein flottes Leben führt und schließlich – hier, wie es scheint, weniger an seinem eigenen Menschenhaß als an seinen einflußreichen Widersachern – scheitert.
Das Wortspiel mit dem Namen Raat/Unrat läßt sich ins Englische nicht übertragen; und ‘sewer rat’ (Kanalratte), mit dem man sich hier behilft, ergibt keinen rechten Sinn. Die Handlung wirkt seicht und banal, die Hauptdarsteller blaß und unbedeutend, weil man natürlich trotz besten Willens die Großen von damals, Jannings und Dietrich, nicht vergessen kann. Und auch das gute Dutzend der in Deutsch und Englisch gesungenen Lieder von Friedrich Holländer und Micha Spolansky aus der Zeit der Zwanziger- und Dreißigerjahre, als die Texte von Schlagern noch witzig waren, retten nicht den alles in allem verlorenen Abend.