die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1987
Text # 329
Autor Ted Hughes
Theater
Titel Gaudete
Ensemble/Spielort Almeida Theatre/London
Inszenierung/Regie Julia Bardsley & Phelim McDermott
Uraufführung
Sendeinfo 1986.10.29/DLF/SWF Kultur aktuell/WDR/ORF WienBR Kulturnotizen 1986.10.29/BR Kulturnotizen (Kurzfassg.) 1986.12.02/HR 1987.01.03/Darmstädter Echo

Als der englische Dichter Sir John Betjeman im Mai 1984 starb und sieben Monate später der Name des neuen ‘Poeta laureatus’ bekannt gegeben wurde, löste die Entscheidung allgemeines Erstaunen aus. Denn Ted Hughes, dem im Alter von 54 Jahren die Ehre zuteil wurde, den auf Lebenszeit verliehenen Titel des königlichen Hofpoeten zu tragen, galt zwar schon lange als einer der bedeutendsten Dichter seiner Generation und erfüllte somit die erste Voraussetzung für die Ernennung. Nur fiel es selbst seinen Bewunderern schwer sich vorzustellen, daß dieser eigenwillige, zurückgezogen lebende, allen Kompromissen abgeneigte “atavistische Poet mit der prophetischen Stimme” der Erwartung entsprechen werde, zu den banalen Anlässen bei Hofe – zur Heirat der Prinzen, zur Geburt oder Taufe der königlichen Enkelkinder, zu Geburtstagen und Sterbefällen – seine gereimten Kommentare abzugeben. “Ted Hughes ist ohne Zweifel der schärfste, düsterste Anti-Establishment-Poet, der je Beamter des königlichen Haushalts wurde“, schrieb eine englische Zeitung . Und in einem Leserbrief hieß es: “Mein Haupteinwand gegen diese Ernennung: Ted Hughes ist für diesen trivialen Posten viel zu gut”.

Der Titel ‘Poeta laureatus’ ist einer der ältesten, den die britische Monarchie zu vergeben hat. 1619 wurde er erstmals an den Dichter Ben Johnson verliehen. Der Träger des Titels ist offiziell Angestellter des königlichen Hofes und erhält eine jährliche Apanage von 70 Pfund und einen Kasten Sherry oder Wein.

Die meisten dichterischen Ergüsse zu königlichen Familienanlässen sind, wie sich denken läßt, literarisch ohne jede Bedeutung, und einige der Hofpoeten, zum Beispiel William Wordworth, haben sich nicht überwinden können, für solche Gelegenheiten auch nur eine einzige Zeile zu schreiben. So war man einigermaßen überrascht, als Hofpoet Hughes schon vier Tage nach seiner Ernennung ein (leider recht unbedeutendes) Poem zur Taufe des Prinzen Harry veröffentlichen ließ und auch zur Hochzeit von dessen Onkel Andrew ein “ Lied” überreichte, das die meisten Leser, die es in ihrer Morgenzeitung entdeckten, einfach lausig fanden. Ein Vorgang, der wieder einmal zu beweisen schien, daß die Muse sich eben nicht gerne nötigen läßt. “Siimple Gefühle und simple Rhythmen liegen Hughes nicht”, hieß es dazu in einem Kommentar.

Die wirkliche Bedeutung des Dichters Ted Hughes bleibt dadurch unangefochten. Sie spricht aus der elementaren Sprachgewalt der poetischen Texte, die aus eigenem Impuls entstehen. Das zentrale Thema seiner meisten Gedichte ist das Verhältnis des Menschen zu den Elementen der Natur, zur Erde, zur Tierwelt, zur Zeit und zur eigenen Sterblichkeit.

1971 schrieb Ted Hughes für Peter Brooks ‘Internationales Zentrum für Theaterforschung’ in Paris den Text eines Stückes mit dem Titel ‘Orghast’, eine literarische Komposition aus drei toten und einer erfundenen Sprache. Das während des fünften Festivals von Shiraz in Persien uraufgeführte Werk war von mesmerisierender Wirkung, obwohl es sich sprachlich kaum noch entziffern ließ.

1977 veröffentlichte Hughes sein fast zweihundert Seiten langes episches Gedicht ‘Gaudete’, ein Text von großer sprachlicher Schönheit, der Zeile für Zeile durchaus verständlich erscheint, obwohl der Sinn des Ganzen dunkel bleibt. Der Literaturwissenschaftler Keith Sagar hält ‘Gaudete’ für “das wichtigste poetische Werk der englischen Sprache in unserer Zeit“.

‘Gaudete’ (vom lateinischen ‘Freut euch!’) besteht aus einer Folge filmischer Episoden, die durch einen Handlungsfäden miteinander verbunden sind. Es ist die mysteriöse Geschichte eines anglikanischen Pfarrers namens Nicholas Lumb, der wie in einem schrecklichen Albtraum aus seiner Welt entrückt wird und miterlebt, wie geisterhafte Gestalten von ihm ein hölzernes Ebenbild herstellen, dem sie Leben geben und es anstelle des echten Pfarrers in dessen Gemeinde zurücksenden. Dem golemartigen Wesen gelingt es, sämtliche Frauen und Mädchen des Dorfes zu verzaubern und nacheinander zu schwängern, wobei er ihnen weismacht, es gälte den neuen Messias zu zeugen, den eine von ihnen gebären werde.

Die Folgen sind tragikomisch und schließlich verhängnisvoll, weil die profane moderne Gesellschaft die Verkörperung der ungebändigten Natur nicht kontrollieren kann. Die Geister, die den echten Pfarrer entführten, müssen dem grausamen Spuk ein Ende setzen. Die betrogenen Ehemänner umzingeln den Gemeindesaal, wo gerade eine Orgie im Gange ist, und hetzen den falschen Lumb wie ein wildes Tier durch die Gemarkung, bis es gelingt, den Faun im schwarzen Rock zu erlegen. Ein Epilog deutet an, daß der wirkliche Nicholas Lumb, von den zerstörerischen Impulsen, die ihn, weil er sie gewaltsam zu unterdrücken versuchte, in den Wahnsinn getrieben, geläutert und geheilt in die reale Welt entlassen wird.

Keith Sagar schreibt: “‘Gaudete’ begann 1964 als Filmszenarium über ein typisch englisches Ereignis: die Entdeckung von schwarzer Magie und Fruchtbarkeitsritualen, die ein schurkischer Pfarrer in einer ländlichen Gemeinde praktizierte, bis er entlarvt und aus dem Dorf vertrieben wurde ... Das zentrale Motiv des Werkes ist die Spaltung, die Spaltung der Psyche, die Spaltung zwischen Mann und Frau, Mensch und Natur, Profanem und Heiligem. Diese Spaltung ist die Wunde, die der Heilung bedarf. Es geht um eine Korrektur unseres Bewußtseins und unserer Gefühle, so daß wir erkennen, daß die ‘Gegensätze’ nur Teile oder Phasen eines einzigen Ganzen sind”.

Diese Interpretation sagt allerdings schon sehr viel mehr, als sich beim einfachen Lesen des geheimnisvollen Textes erschließen läßt. Was er vermittelt, bleibt an die Form, den poetischen Ausdruck gebunden, kann nicht von ihm abgelöst werden, ist wesentlich Sprache, die flüchtige Bilder, Gestalten und Vorgänge projiziert; Bilder, die sich nicht fixieren, Gestalten, die, weil sie nur Sprache sind, Poesie, sich nicht auf der Bühne verkörpern lassen.

Julia Bardsley und Phelim McDermott, die im Londoner Almeida-Theater das Unmögliche versuchen, haben die Szene mit alten Eichenschränken und -kommoden umstellt, die sich vor einem verschiebbaren Treppenaufgang mit Galerie auf Rollen hin- und herbewegen oder zu Bergen auftürmen lassen; Schränke aller Art, durch deren Türen, wenn sie geöffnet werden, grelles Licht von außen eindringt. Wie überhaupt mit zahlreichen Lichtwechseln und Nebelschwaden, in der Hand gehaltenen Stablampen und einem Teppich aus Lumpengewändern, der an Fleischerhaken zeltartig hochgezogen werden kann, sich mitunter verblüffende Effekte ergeben, die das Transitorische, Flüchtige, Geisterhafte der Vorgänge signalisieren.

Da es keine Dialoge gibt, sprechen die Darsteller in dritter Person von sich selbst, während sie gleichzeitig auszuspielen versuchen, was sie sprachlich benennen: eine Tautologie, die im Verlauf des Stückes immer ärgerlicher wird. Der großen, elementaren Poesie des Textes, dem Zauber der Sprache, sind die Schauspieler nicht gewachsen. Der Versuch der Verkörperung hat die Geister verscheucht, und was sich mitteilt, bleibt ohne Sinn.

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