“Was zeichnet Peter Shaffer vor anderen Autoren aus und macht ihn zum populärsten lebenden Bühnendichter?“, fragte vor ein paar Jahren der Theaterkritiker einer Londoner Tageszeitung und gab darauf die Antwort: “Vor allem die Gabe der Erfindung gewaltiger theatralischer Bilder – die Eroberung Perus in ‘The Royal Hunt of the Sun’, die Blendung der Pferde in ‘Equus’ und die Ermordung Mozarts in ‘Amadeus’”. Dies seien nicht nur sensationelle Aufhänger, sondern “Metaphern im Dienst der Auseinandersetzung mit Fragen von universaler Bedeutung”.
Shaffers neues Stück ‘The Gift of the Gorgon’ (Das Geschenk der Gorgo), das soeben von der Royal Shakespeare Company in London uraufgeführt wurde, ist dem großen Thema Schuld und Sühne gewidmet. Es stellt die uralte und doch ganz aktuelle Frage, wie die Gesellschaft kapitale Verbrechen, die von einzelnen oder im Namen einer politischen Idee von vielen begangen werden, sinnvoll bestrafen kann. Muß, darf Strafe noch als Vergeltung verstanden werden? Oder ist jede Form von Rache nicht vielmehr eine Art Krankheit, die wir zu heilen versuchen sollten, eine Art Krebs, der nur zerstören, doch nichts wiedergutmachen kann?
Das Stück beginnt mit der im Rundfunk verbreiteten Nachricht vom Tod des englischen Bühnendichters Edward Damson, der in der Nähe seines Hauses auf der griechischen Insel Thera im Alter von 46 Jahren tödlich verunglückt sei. Und dann erscheint, wie in einem Drama der alten Griechen, ein Sohn, der seinem Vater persönlich nie begegnet ist, bei seiner Witwe und verlangt nach der Wahrheit über den Mann, der sich ihm zeitlebens verweigerte und für ihn nur über das Studium seiner literarischen Werke zugänglich war. Helen Damson weiß von der Existenz eines Sohnes aus einer früheren Verbindung ihres verstorbenen Mannes, weigert sich aber, mit ihm zu sprechen. Erst als Philipp geschworen hat, in einem Buch über den Vater ungeschönt niederzuschreiben, was er von Helen erfahren wird, ist sie bereit, sich ihm zu offenbaren.
Und so entsteht für uns in szenischen Rückblenden das Persönlichkeitsbild eines ungewöhnlich begabten, doch unerbittlich grausamen Mannes, der sich als Dichter dazu berufen fühlt, das Böse in der Welt zu bekämpfen und vernichtend zu schlagen. Damson glaubt, daß es Verbrechen gibt, die nur durch die physische Vernichtung des Verbrechers wiedergutzumachen sind. “Tötet alle Terroristen, die ihr fassen könnt! Nur so bleiben wir rein“.
Peter Shaffers Stück ist der Versuch zu zeigen, daß der Glaube, eine Gesellschaft müsse an denen, die sich vergehen, Vergeltung üben, nichts anderes ist als die aus dem atavistischen Bedürfnis nach Rache hervorgegangene Ideologie der Gewalt; daß der Wahn, man müsse Gleiches mit Gleichem vergelten, Auge um Auge, Zahn um Zahn, nur den verhängnisvollen Drang zur Zerstörung perpetuiert.
Helen vertritt dagegen die Überzeugung, daß der Mensch als einziges vernunftbegabtes Wesen die Aufgabe habe, den verhängnisvollen Kreislauf der Zerstörung zu durchbrechen, dem versteinernden Blick der Medusa standzuhalten und das Böse durch Versöhnung zu überwinden.
In den skizzierten Szenen, die Edward seiner Frau von Zeit zu Zeit aufs Kopfkissen legt (und die von Darstellern in antiken Masken pantomimisch ausgespielt werden, während der Text mit Edwards und Helens Stimme zu uns herüber dringt), sieht sich der Dichter als Perseus, der nur durch die Hilfe der Göttin Athene sein Vorhaben ausführen kann. Edward weiß, daß er Helen die Kraft zum Schreiben verdankt. Doch an dem Konflikt zwischen seinem “unstillbaren Verlangen nach Gerechtigkeit” durch Vergeltung und ihrem Anspruch auf Heilung durch Vergebung zerbricht ihre Verbindung.
Edward ist fassungslos, als er hört, daß der Vater eines Mädchens, das bei einem Bombenanschlag der IRA ums Leben kam, öffentlich erklärt, er vergebe den Mördern seiner Tochter. Als Antwort schreibt er ein Drama, in dem ein IRA-Terrorist von der Mutter eines getöteten Mädchens in einer rituellen Exekution ermordet wird.
Es ist der Anfang vom Ende des Dichters Edward Damson, der, wie zu vermuten war, nicht durch einen Unfall stirbt, sondern in einem bizarren Akt der Selbstzerstörung sich für das eigene Versagen mit dem Tode bestraft.
Helen wird sich bewußt, das Edwards Grausamkeit ihre Liebe in Haß verwandelt hat, der nun selbst nach Rache verlangt und das glorifizierte Bild des Dichters durch Veröffentlichung eines Buches, das ihn zeigen soll, wie er wirklich war, zerstören will. Edward scheint noch im Tod zu triumphieren. Ihr Ruf, daß sie ihm vergebe, klingt wie ein Verzweiflungsschrei.
Peter Shaffer hat es verstanden, die Fäden seiner Geschichte so kunstvoll zu verknüpfen, daß es nahezu unmöglich ist, in linearer Rede einigermaßen klar zu sagen, was man in diesen drei Stunden erlebt, gehört und gesehen hat, und dabei sicher zu sein, das Wesentliche mitgeteilt zu haben. Selten habe ich das Dilemma des Kritikers, ein Stenogramm einer Aufführung liefern zu müssen, die sich in solcher Verkürzung einfach nicht angemessen beschreiben läßt, so sehr als Versagen vor der Sache, um die es geht, empfunden.
In Peter Halls Inszenierung im kleinen Londoner Theater der Royal Shakespeare Company The Pit wirkt die komplexe Geschichte, die sich im Verlauf des Stückes wie die Teile eines Puzzlespiels zusammengefügt, spannend wie ein Kriminalroman. Mit Dame Judi Dench und Michael Pennington, die man lange nicht mehr so eindringlich, glaubhaft und überzeugend hat spielen sehen, in den Hauptrollen wurde daraus eine der stärksten Theateraufführungen dieses Jahres.