“Vieles von dem, was wir vom Deutschen Theater wissen, erfüllt uns in England mit offenem Neid“. Mit diesen Worten eröffnete Michael Billington, Theaterkritiker der Zeitung ‘The Guardian’, am vergangenen Wochenende eine Begegnung deutscher und britischer Theaterleute, die sich im Londoner Goethe-Institut eingefunden hatten, um sich mit dem Thema ‘Deutsches Theater heute’ zu befassen, einem Thema, für das sich die trotz aller Bemühungen um europäische Einigung noch immer unvorstellbar insulären Briten erst im Laufe der letzten Jahre wirklich zu interessieren begonnen haben. Jürgen Flimm, der Intendant des Hamburger Thaliatheaters, und Michael Merschmeier, Redakteur der Zeitschrift ‘Theater heute’, waren eingeladen, über die Fragen Subventionierung und Sponsoren, ‘Regisseurtheater’ und ‘Schauspielertheater’, neue deutsche Dramatik und die zu erwartenden Veränderungen nach einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu sprechen.
Worum die Briten die Deutschen vor allem beneiden, das ist die finanzielle Situation des deutschen Theaters, die Tatsache etwa, daß die Hamburger Schauspielbühnen doppelt so hoch subventioniert werden wie die großen Londoner Theater und deren bestbezahlte Schauspieler gerade so viel verdienen wie ihre Kollegen mit der niedrigsten Garage am Thaliatheater. Was unter anderem bedeutet, daß nur die deutschen Bühnenkünstler es sich leisten können, auf Nebenverdienste durch Arbeiten bei Funk und Fernsehen zu verzichten.
Entscheidend scheint die von Flimm und Merschmeier bestätigte Tatsache zu sein, daß im Unterschied zu Großbritannien die Höhe der den Theatern gewährten Subventionen in Deutschland von keiner Partei mehr infrage gestellt wird, sich also selbst bei einem Regierungswechsel daran nichts ändern kann. Dazu kommt, daß das in Großbritannien kaum bekannte Abonnementsystem den deutschen Bühnen schon zu Beginn jeder Spielzeit den Verkauf der Hälfte aller Plätze garantiert.
Daß der relative Wohlstand der deutschen Theater auch gewisse Gefahren in sich berge, wollten Flimm und Merschmeier nur zögernd zugestehen. Daß die großen Theater einen kleinen Teil der ihnen gewährten Gelder an die freien Truppen abtreten könnten, mochten sie nicht hören. Diese Subventionen verschaffe die Unabhängigkeit, die es erlaube, weitgehend ohne Zuwendungen von privaten Sponsoren zu arbeiten, ja gelegentlich Angebote aus ideologischen Gründen auszuschlagen – wie im Fall des Thaliatheaters, dessen Aussagen sich nach demokratischer Abstimmung gegen die Annahme eines jährlichen Zuschusses von einer viertel Million Mark des deutschen Waffenkonzerns Messerschmitt-Bölkow-Blohm entschied.
Etwas ungläubig nahm man zur Kenntnis, daß das lange als Markenzeichen der deutschen geltende ‘Regisseurtheater’ (Theater, in dem nicht die Schauspieler, sondern Regisseure und Intendanten die dominierende Rolle spielen) inzwischen weitgehend überwunden sei; zumal Merschmeier und Flimm deutsche Intendanten noch immer als ‘Könige’ bezeichneten – ‘aufgeklärte Monarchen’, wie Flimm meinte, sich und seinesgleichen zugute halten zu dürfen.
Im übrigen gab er zu: “Wir wissen in Deutschland immer noch viel zu wenig über die englische Theatersituation“. Daß Unkenntnis, die nicht selten mit Arroganz einhergeht, nicht nur auf britischer Seite zu finden ist, bewies auch sein Landsmann, als er erklärte, der englische Schauspieler sei durch das Fernsehen für die Aufgaben des Theaters unbrauchbar gemacht worden, und er sich zu der absurden rhetorischen Frage verstieg, ob das Theater in Großbritannien überhaupt noch als Kunstform anerkannt werden könne. Er schien nicht zu ahnen, daß es auch Leute gibt, die mit der von deutschen Regisseuren noch immer geduldeten, wenn nicht gar geförderten bramabarsierenden Theatralik deutscher Darsteller ganz ähnliche Schwierigkeiten haben. Verschiedene Ausdruckstraditionen verschiedener Länder und Kulturen?, wie Merschmeier später im privaten Gespräch konzedierte. Mag sein. Dies wäre genauer zu untersuchen.
Ähnlich verwirrend war auch die Versicherung, es fehle im deutschen Sprachbereich nicht an talentierten Theaterautoren, neben der Klage, daß es viel zu wenig gute neue Theaterstücke gebe, zumal solche, die sich auf konkrete historische Konstellationen beziehen, wie etwa die Studentenbewegung der Sechzigerjahre oder das Aufkommen neuer rechtsextremer Parteien; Themen, die von britischen Theaterautoren zum Teil schon vor Jahren aufgegriffen wurden.
Vielleicht weil keiner der Gesprächspartner über die Veränderungen, die sich nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ergeben werden, mehr als vorsichtige Spekulationen anbieten konnte, waren die in diesem Zusammenhang vorgetragenen Gedanken besonders interessant: etwa die Frage, ob das Theater durch die Wiedervereinigung eigentlich nur verlieren könne; ob den Theatern in der DDR durch den Prozeß der Demokratisierung schon jetzt das entscheidende Stimulans genommen worden sei; ob die Bürger der DDR im Augenblick wirklich kaum noch Sinn für Theater haben, weil das Theater, das sich auf den Straßen abspielt, inzwischen viel spannender ist; was die Verlagerung der kulturellen Verantwortung auf Bezirke und Städte der DDR in einer Zeit, in der so vieles andere dringlicher erscheine, für die Theater bedeuten könne; und ob sich auch für das westdeutsche Theater etwas verändern werde.
Michael Billington schloß das Gespräch, wie er es begonnen hatte, mit einem Dank an die deutschen Gesprächspartner; man habe eine Menge gelernt. Offensichtlich sei da noch immer vieles, was die Briten dem deutschen Theater gegenüber mit Neid erfüllen könne. Doch sei es tröstlich zu hören, daß es selbst im gelobten Land, dem Utopia des Theaters, auch Schattenseiten gebe.