die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1985
Text # 207
Autor Fjodor Dostojewski/Juri Ljubimow
Theater
Titel The Possessed
Ensemble/Spielort Almeida Theatre/London
Inszenierung/Regie Juri Ljubimow
Hauptdarsteller Michael Pennington/Michael Feast
Brit. Erstaufführung
Sendeinfo 1985.02.11/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/SR/DW/SRG Basel 1985.02.12/ORF Wien 1985.03.22/SFB (teilw.) Nachdruck: Darmstädter Echo

Als Juri Ljubimow, damals noch künstlerischer Leiter des Moskauer Taganka-Theaters, im Herbst 1983 mit englischen Schauspielern seine Dramatisierung des Dostojewski-Romans ‘Schuld und Sühne’ (Crime and Punishment) in Szene setzte, feierten die Londoner Kritiker das Ereignis als “bedeutendstes Beispiel erfindungsreichen Regietheaters seit Peter Brooks ‘Sommernachtstraum’”. Man sprach vom “außergewöhnlichsten Theaterstück des Jahres” und “aufrüttelnder theatralischer Kühnheit”. Ljubimow wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet und als “Bester Regisseur des Jahres 1983“ geehrt.

Daß er als streitbarer Anwalt für die Freiheit künstlerischen Ausdrucks, dem die politische Zensur das Leben in Moskau so schwer wie möglich gemacht zu haben schien, als Dissident, der keine Gelegenheit ausließ, die sowjetischen Behörden des Banausentums und der geistigen Diktatur zu beschuldigen, sich auch als Instrument des kalten Krieges mißbrauchen ließ, sorgte dafür, daß er im Westen nicht nur als außergewöhnlicher Künstler umworben wurde und sich die Rückkehr in seine Heimat immer mehr erschwerte. Im Juli des vergangenen Jahres wurde Ljubimow “wegen feindlicher Aktivitäten zum Schaden des Ansehens der Sowjetunion“ seines Postens als Direktor des Taganka-Theaters enthoben, bei gleichzeitiger Aberkennung der sowjetischen Bürgerrechte. Seither lebt er mit seiner jungen Frau und einem fünfjährigen Sohn in Italien.

Seine politische Überzeugung habe er aus der Bibel und den Werken Dostojewskis, erklärt Ljubimow, der, wie es heißt, über sieben Jahre an der Dramatisierung der ‘Dämonen’ arbeitete, die er am 16. Februar im Pariser Odeon zur Uraufführung bringen will, eine Produktion des Théâtre l’Europe in englischer Übersetzung, die in London einstudiert wurde, Ende des Monats von Paris nach Italien ziehen und Mitte März wieder nach London ins Almeida Theatre zurückkehren wird, wo man die Aufführung in einer Vorpremiere schon jetzt sehen durfte.

Ljubimows szenische Nachdichtung sei dem Geist und Stil des Originals “auf verblüffende Weise getreu”, heißt es in einer Vorankündigung, und führe “direkt zum Herzen von Dostojewskis albtraumhafter Vision von Geheimbündelei und Terrorismus im Leben einer kleinen Provinzstadt. Ljubimow zeigt die Stadt als Mikrokosmos einer Gesellschaft”, heißt es dann weiter, “die schärfstem Druck ausgesetzt ist. Während die ganze Galerie der Charaktere im Namen eines Ideals allmählich von Intoleranz, Furcht und Haß ergriffen wird, zerfallen die Strukturen der sozialen Konvention”.

Das klingt plausibel, dachte man sich: Ljubimows Geister der Vergangenheit, die Dämonen sozialistischer Oppression, begehren Einlaß und werden gebannt im Schreckbild des Irrsinnig-Widerwärtigen. Plausibel: da wehrt sich einer berechtigtermaßen – und rennt hierzulande viel zu weit offene Türen ein.

Ljubimow hat ein Albtraumspiel entworfen. Charaktere tauchen auf aus einer gesichtslosen Masse chorisch bewegter, schreiender oder stummer, ekstatisch gestikulierender Gestalten, die im Halbdunkel in immer wieder neuen Gruppierungen über die leere arena-artige Bühne jagen, stürzen, fallen oder die beweglichen, aus breiten elastischen Bändern bestehenden Wände, welche die Spielfläche nach drei Seiten begrenzen, durchbrechen, immer in fliegender Hast, wie von Dämonen gehetzt, Transparente mit den Kapitelüberschriften des Romans hin- und hertragend, mit Stablampen sich selbst und anderen ins Gesicht leuchtend, Verfolger und Verfolgte in gespenstischem Tanz.

Das Publikum wird einem gut organisierten chaotischen Wirbel optischer und akustischer Reize ausgesetzt, einem dreieinhalb Stunden währenden Trommelfeuer sinnlicher Eindrücke, die sich dem emotionalen und rationalen Verständnis weitgehend entziehen. Und da es fast keinen Ruhepunkt gibt, die Spannung von Anfang bis Ende künstlich in nahezu gleichbleibend hoher und darum als schmerzhaft empfundener Intensität gehalten wird, wanken die Zuschauer nach der Vorstellung wie nach einer schrecklich lang anhaltenden Naturkatastrophe, bei der es kein Entrinnen gab, benommen, erschöpft, verwirrt und ratlos ins Freie.

Ljubimow ist ein Regisseur, der seine Schauspieler über die Grenzen ihrer bisherigen Möglichkeiten hinaustreibt. Michael Pennington, der Raskolnikow seiner Londoner ‘Schuld-und-Sühne’-Inszenierung, und Michael Feast, als Peter Verchovenski die herausragende Figur unter den überlebensgroßen Gestalten des schaurigen ‘Dämonen’-Dramas, werden wohl ihre Begegnung mit Juri Ljubimow zeitlebens nicht vergessen.

Ljubimows ‘Dämonen’-Inszenierung liefert uns Bruchstücke eines komplexen, in tausend Fragmente zersplitterten, figurenreichen Romangebildes, das sich in Mono- und Dialogen und assoziativen Sprüngen entwickelt und hier zum szenischen Vexierbild geraten ist, vor dem der gute Wille des aufgeschlossenen Zuschauers, sofern er den Text des Originals, seine Gestalten und deren Gedanken nicht in- und auswendig kennt, resignieren muß. Was die Kritiker nah und fern, die Ljubimows wildwüchsig expressionistische Inszenierung in den nächsten Wochen sehen werden, vermutlich nicht davon abhalten wird, das problematische Werk zu bejubeln.

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