die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1974
Autor Steve Gooch/Paul Thomson
Theater
Titel The Motor Show
Ensemble/Spielort Half Moon Theatre/London
Inszenierung/Regie Ron Daniels
Uraufführung
Sendeinfo 1974.04.17/SWF Kultur aktuell 1974.04.22/SR 1974.04.23/ORF Wien/Nachdruck: Darmstädter Echo

Unter dem Namen ‘Community Theatre’ hat sich in London eine neue Theatergruppe formiert, der eine Reihe junger Autoren, Regisseure, Bühnenbildner und Schauspieler angehören, die sich durch die Arbeit für einige der aktivsten und mutigsten Bühnenunternehmen der Stadt bekannt gemacht haben. ‘Community Theatre’ versteht sich als Kollektiv, das eine neue Form von Theaterarbeit anstrebt, die – wie es heißt – ihre Stimuli direkt aus der Kommune erhält, der Bevölkerung der großstädtischen Gemeindebezirke, in denen das ‘Community Theatre’ auftritt und auf deren besondere soziale Probleme es sich einzustellen versucht. Es wird daran erinnert, daß das heutige Theater nur für zwei Prozent der Gesamtbevölkerung da sei, Privileg einer intellektuellen und finanziellen Elite, für die große Masse aber fast keine Bedeutung habe. Das Kollektiv will deshalb in einem der Londoner Außenbezirke ein Zentrum für Kunst und Unterhaltung schaffen, das alle Teile der Bevölkerung anspricht und sich besonders den Interessen der vernachlässigten Mehrheit verschreibt.

Das erste Gemeinschaftsprojekt dieser Art entstand im Südostlondoner Vorort Dagenham für die Arbeiter der riesigen Ford-Werke und deren Familien, die in dem von allen Musen gemiedenen Stadtbezirk leben, einer erschreckend kahlen Landschaft am Rande der Zivilisation. Wer in Dagenham wohnt, gehört zu Ford; und dies in besonderer Weise. Der äußeren Verhältnisse wegen gehören die Leute von Dagenham in einem kaum noch vorstellbaren direkten Sinne dem Ford-Konzern, für den sie arbeiten.

Die Inszenierung des Stückes ‘The Motor Show’ von Steve Gooch und Paul Thomson ist den Arbeitern der Ford-Werke und ihrem Kampf um faire Arbeitsbedingungen gewidmet. Mit Subventionen des staatlichen Arts Council ist eine Theatershow entstanden, die in moralitätenspielhafter Form die Geschichte des Ford-Konzerns spiegelt, von der Einführung des Fließbands 1914 über die Erfindung des Fünf-Dollar-Tages zur Anwerbung neuer Arbeitskräfte, die Anfänge der Gewerkschaftsbewegung in der amerikanischen Motorindustrie, die Expansion auf den europäischen Kontinent bis zur Gründung der Ford-Werke in Dagenham. Der überzeugte Pazifist Henry Ford wird zum Waffenproduzenten, als er begreift, daß Kriege aus geschäftlichen Krisen helfen können. Als letzte der großen amerikanischen Automobilgesellschaften läßt Ford die Organisierung seiner Arbeiter in Gewerkschaften zu. Die internationale Konkurrenz, Schwächung des Dollars, der Kampf der Ford-Arbeiter um Gewinnbeteiligung und die allgemeine Verteuerung der letzten Jahre erschüttern den Wirtschaftsgiganten und geben im Stück Anlaß zum Optimismus, daß die Arbeiter am Ende des langen Kampfes der Klassen triumphieren werden.

Die große ‘Motor Show’ von Steve Gooch mit den Liedtexten von Paul Thomson macht die Geschichte der Autoindustrie der vergangenen sechzig Jahre zum Modellfall, woran sich gesellschafts-typisches Verhalten im Spätkapitalismus beobachten läßt. Es ist eine kabarettistische Revue, die mit den Mitteln der Karikatur und Parodie polemisiert und informieren, überzeugen und unterhalten will.

Die Inszenierung, für die Ron Daniels als Regisseur verantwortlich zeichnet, ist inzwischen ins Half Moon Theatre übernommen worden.

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