die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1988
Text # 242
Autor Brian Friel
Theater
Titel Making History
Ensemble/Spielort Field Day Theatre Company/Cottesloe Theatre/National Theatre/London
Inszenierung/Regie Simon Curtis
Hauptdarsteller Stephen Rae/Niall Toibin
Sendeinfo 1988.12.07/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/SRG Basel 1988.12.08/RIAS/Nachdruck: Darmstädter Echo

Brian Friel gilt als der bedeutendste lebende irische Dramatiker. Von den in drei Jahrzehnten entstandenen sechzehn Dramen sind die meisten außerhalb Irlands nur relativ selten gespielt worden. Das 1980 geschriebene Schauspiel ‘Translations’ (Übersetzungen), eine kritische Betrachtung der irischen Geschichte aus der sprachlichen Perspektive, wurde sein bisher größter internationaler Erfolg. Das von der Field Day Theatre Company uraufgeführte Stück gilt als “das größte Werk des politischen Theaters in Irland seit O’Casey”.

Die vor acht Jahren von Brian Friel und dem Schauspieler Stephen Rae im nordirischen Derrry gegründete Field Day Theatre Company ist die einzige Theatertruppe, die mit ihren Aufführungen regelmäßig ganz Irland bereist und dafür von beiden Teilen des Landes subventioniert wird. Als Gast des Nationaltheaters stellt die Truppe in diesen Wochen das jüngste Stück von Brian Friel ‘Making History’ im Cottesloe Theatre vor. Es geht darin um die Frage, ob Geschichte von denen gemacht wird, die auf der Tribüne der Zeit die Hauptrollen spielen, oder von denen, die über die Ereignisse berichten, jenen Historikern, die nach einem Wort von Oscar Wilde damit beschäftigt sind, “eine genaue Beschreibung dessen zu geben, was sich niemals ereignet hat“.

Hugh O’Neill, Graf von Tyrone, wird in Irland noch immer als Nationalheld gefeiert, Führer des irischen Aufstands von 1592, großer Feldherr und Visionär eines von britischer Fremdherrschaft befreiten vereinigten Landes. Es ist das glorifizierte Bild eines Mannes, das mit der Wirklichkeit so gut wie nichts mehr zu tun hat. Hugh O’Neill war in England erzogen worden, hatte neun Jahre die für die Söhne der Adligen geschaffenen Privatschulen besucht und war, wie es scheint, dem neuen weltoffenen Geist der Renaissance ebenso zugetan wie der fast anarchaischen Wildheit seiner gälischen Heimat.

Das Stück legt die Vermutung nahe, daß O’Neill sich nur durch das Eingreifen der Spanier, die in der Verfolgung eigener Machtinteressen zum gegenreformatorischen Kreuzzug aufgebrochen waren und in ihrem Kampf gegen das protestantische England zu helfen versprochen hatten, zur Führung eines bewaffneten Aufstands überreden ließ.

Die Rebellen wurden verraten und vernichtend geschlagen, die Spanier vertrieben, die irischen Grafen flüchteten ins Ausland. O’Neill entschloß sich zum Kotau vor der englischen Königin, trug ihr seine Dienste an und bat im unterwürfigsten Ton um die Rückgabe seiner Grafschaft Tyrone. Er wurde abgewiesen und endete armselig im römischen Exil, wo er den letzten Kampf seines Lebens gegen den irischen Erzbischof Lombard auszufechten hatte. Der war dabei, die Geschichte des Aufstands zu schreiben. Im Gedanken an das zerstückelte, ausgeblutete, demoralisierte irische Volk war daraus ein patriotisches Heldenepos geworden.

O’Neill will, daß Lombard nichts als die Wahrheit schreibt. Doch der braucht O’Neill als mythische Gestalt, Symbol des Befreiungskampfes. Es komme darauf an, die Fakten in einen sinnvollen, logischen, einleuchtenden Zusammenhang zu stellen, denn, so argumentiert er, die Menschen warten nicht auf “die Wahrheit” (was immer das sei), sondern auf eine glaubhafte Reportage. “Geschichte, das gibt es nicht. Es gibt nur Geschichten”. O’Neill begreift, daß die eigentlichen Akteure des Weltgeschehens ihren Protokollanten hilflos ausgeliefert sind: sie haben das letzte Wort. Die Historiker machen die Geschichte.

“Der historische Text ist eine Art literarischer Artefakt”, gibt Brian Friel zu verstehen. Auch sein Stück sei “eine dramatische Fiktion, die wirkliche und erfundene Ereignisse im Leben des Hugh O’Neill benutzt, um eine Geschichte zu erzählen“. Er sei um Objektivität bemüht gewesen und habe sich gewissenhaft empirischer Methoden bedient. Freilich, wann immer es zu Konflikten zwischen historischen “Fakten” und poetischen Imperativen gekommen sei, habe er sich für “die gute Geschichte” entschieden. Die gute Geschichte, das ist hier die unaufgelöste (und, wie Friel behaupten würde, auch unauflösbare) Kontroverse zwischen den verschiedenen, im Stück gegeneinander gestellten, einander ausschließenden Versionen historischer Wahrheit.

Die mit einfachsten theatralischen Mittel gebaute, fast bühnenbildlose Inszenierung der Field Day Theatre Comapny unter der Regie von Simon Curtis mit Stephen Rae in der schillernden Rolle des Grafen von Tyrone und Niall Toibin als Erzbischof Lombard stellt das Stück über die relative Wahrheit geschichtlicher Überlieferungen wie ein von den jeweils wechselnden Winden bestimmter Interessen bewegtes szenisches Mobile vor.

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