die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1989
Text # 251
Autor Howard Brenton
▶ Tonaufnahme/ Theater
Titel Hess Is Dead
Ensemble/Spielort Almeida Theatre/Royal Shakespeare Company
Inszenierung/Regie Danny Boyle
Uraufführung
Sendeinfo 1989.09.29/SWF Kultur aktuell/DLF/WDR/RB/RIAS 1989.10.03/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo (zensiert!)
Tonaufnahme ▶ Originaltonbeitrag

“In meinem Beruf gilt: Tatsachen sind alles. Sie sind Steine. Steine sind real“. Der das sagt, ist ein Journalist namens Palmer, ein Reporter, der die Aufgabe hat, über Tatsachen zu berichten. Ein Berichterstatter. “Doch harte Fakten”, fügt Palmer ergänzend hinzu, “harte Fakten werden mitunter weich ... werden zu ‘Meinungen’ ... zu Phantomen”.

Das Stück, von dem hier die Rede ist, heißt ‘Hess Is Dead’. Wie der Titel verrät, handelt es von dem zwar nicht mehr aufklärbaren, doch auch kaum mehr rätselhaften Tod des Rudolf Hess. Dem Autor Howard Brenton aber geht es um mehr: um das Thema historische Wahrheit. “Wer wird die Geschichte der Geschichtsfälscher schreiben?“, läßt Brenton fragen. Sein Stück ist der Versuch eines Beitrags dazu. Der Tod des Rudolf Hess wird zum Exempel der These, daß die offizielle Version der Geschichte oft mit der Wahrheit nichts mehr zu tun hat.

Die eigentlichen Fakten des Falles werden uns beiläufig mitgeteilt: eine lange Liste der Gebrechen des 93-jährigen Greises, die mit unabweisbarer Logik die Möglichkeit eines Selbstmordes ausschließen. Die Alternative heißt Mord; ein Mord, der nicht mehr bewiesen werden kann, weil die Militärverwaltung des britischen Sektors von Berlin, zu dem das Spandauer Gefängnis gehörte, sofort alle Beweismittel vernichten ließ und die britische Regierung eine kriminalpolizeiliche Untersuchung verhinderte.

Um zu zeigen, wie dicht das Gestrüpp der Täuschungen ist, das die historische Wahrheit in der Regel umgibt, hat Brenton ein Stück entworfen, das nicht nur von der Fabrikation historischer Wahrheiten handelt, sondern eine der Hauptpersonen, den Journalisten Larry Palmer, nach dem Kern der Wahrheit suchen und dabei eine Art Zwiebelschalenerlebnis haben läßt.

Das Stück ist so vertrackt gebaut wie die Verflechtung der realen Gegebenheiten erscheint. Palmer hat sich mit der Witwe eines Professor Luber getroffen, für den die Suche nach der wahren Identität des Häftlings Nummer 7 im Spandauer Gefängnis zur Obsession geworden war. Luber ist mysteriöserweise am selben Tag wie Hess verstorben, hinterließ aber, wie sich herausstellt, eine Fülle von Videobändern, die unter anderem auch die geheime Zusammenkunft eines internationalen Komitees belegen, das wenige Stunden nach dem Tod von Hess zusammengerufen wurde, um Empfehlungen für eine Stellungnahme der vier Alliierten zu unterbreiten: die offizielle Version der Ereignisse, die historische Lüge.

Die von Brenton erfundene Rahmenhandlung hat mehrere Schichten und wird uns weitgehend indirekt vermittelt, vor allem über die Videobandaufzeichnungen, die Palmer sich anschaut und die uns über zehn Monitoren in den Zuschauerraum übertragen werden. Durch die Kommentare der geistig offenbar etwas derangierten Frau Luber und eine Art Tanzpantomime, die sie zur Illustration der Gebrechen des greisen Häftlings vorführt (eine andere Metapher für die poetische Beschönigung der Wirklichkeit), sowie das leibhaftige Auftreten der eigentlich nur noch auf Band existierenden Personen des Geheimkomitees ergeben sich verschiedene Vermittlungsebenen, die immer wieder gebrochen werden und so auch das, was sich als Wahrheit ahnen läßt, fragmentieren. Dabei wird deutlich, daß die Media-Apparatur keineswegs nur wahrheitsgetreu abbildet, was ist, sondern verzerrt und manipuliert. Die offizielle Wahrheit ist ein Konstrukt.

So kompliziert der Zusammenhang auch sein mag, so komplex die dramaturgische Gestalt des Stückes, muß uns die Inszenierung doch helfen, das Verwirrspiel zu durchschauen. Regisseur Danny Boyle scheint weder die Struktur des Werkes, noch seinen tieferen Sinn verstanden zu haben. Die auf Videoband festgehaltenen Szenen wirken funktionslos, nichtssagend und banal, die Tanzpantomime der Luber wird zur unverständlichen melodramatischen Farce. Es ist eine gedankenlose, oberflächliche Inszenierung, die das Stück in vielen Passagen obskur, verworren und bedeutungslos erscheinen läßt; eine Inszenierung, der man vor allem vorwerfen muß, eines der entscheidenden Motive des Textes gar nicht wahrgenommen zu haben: daß jeder, der den Zusammenhängen dieser Geschichte ernsthaft nachgeht, daran – wie der Spandauer Häftling Nummer 7 – den Verstand zu verlieren droht.

 

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