die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 332
Ausstellung/ Kulturpolitik
Titel The Art of the Brazilian Indians
Ensemble/Spielort Museum of Mankind/British Museum/London
Sendeinfo 1978.08.08/SWF Kultur aktuell/SFB Feuilleton/DW Kunst und Literatur 1978.0816/WDR Krit. Tagebuch (versch. Fassungen) Nachdruck: Darmstädter Echo

Die ethnographische Abteilung des britischen Museums im ‘Museum of Mankind’ zeigt bis Ende Oktober dieses Jahres eine Ausstellung, die in mehr als einer Hinsicht besonderes Interesse verdient. Unter dem Titel ‘Die Kunst der brasilianischen Indianer’ bietet sie 360 Arbeiten (Keramiken, Federschmuck, Textilien, Hängematten, Korbwaren, Waffen und Musikinstrumente) von 43 verschiedenen Indianerstämmen, Kunst- und Gebrauchsgegenstände, die von Sandra Wellington, einer in Brasilien geborenen Engländerin, während der letzten zehn Jahre im Tauschhandel erworben wurden. Es ist eine bemerkenswert schöne Sammlung, die eine Vorstellung gibt vom Reichtum und Glanz einer Kultur, die wir primitiv nennen, weil sie sich Formen eines naturhaften Daseins erhalten hat, das sich als Teil eines natürlich gewachsenen Universums begreift, in welchem der Mensch seiner Umwelt sich zuordnet, statt zu versuchen, sie seinem Willen zu unterwerfen. Während Zivilisation, auf deren Fortschritt wir anderem so stolz sind, die Kräfte der Natur nurmehr als wohlfeile Angebote zur blindwütigen Ausbeutung versteht, wobei man nach den ökologischen Folgen dieses Fortschritts, den dabei geschaffenen Veränderungen der Umwelt, nicht fragt, erlebt der von Zivilisation und moderner Technik bisher verschonte Primitive die Kräfte der Natur noch als Erscheinungsformen des Geistes, dessen im wahrsten Sinne naturgegebene Ordnung er respektiert.

Die im Museum of Mankind eingerichtete Ausstellung offeriert ihre Objekte ohne Kommentar zu den Lebensumständen der Menschen, denen wir sie verdanken, so als handele es sich hier um Erzeugnisse einer soeben erst entdeckten Gruppe von Steinzeitmenschen, von denen wir noch nie gehört haben und über die keiner etwas weiß. Da dies nun aber im Falle der brasilianischen Indianer ganz und gar nicht der schlimmen Wahrheit entspricht, fühlt man sich genötigt, nach dem Hintergrund zu fragen, den die sonst sehr eindrucksvollen, wirklich wunderschönen Schaustücke offenbar gerade verstellen sollen.

Brasilien ist eines der rohstoffreichsten Länder der Erde. Es besitzt etwa ein Viertel der gesamten Eisenerzreserven und die größten Manganlager, außerdem reiche Kupfervorkommen, Bauxit, Chrom, Steinkohle, Erdöl, Uran, Gold und Industriediamanten. Bis 1970 waren noch 60% des Landes bewaldet, wodurch Brasilien zu einem der größten Kautschuklieferanten wurde. Brasilien hat heute die leistungsfähigste Industrie in Südamerika. Um die gewaltigen Rohstoffreserven des Amazonasgebietes ausbeuten zu können, braucht man Anleihen aus dem Ausland und die Hilfe der multinationalen Konzerne, die das Gebiet erschließen. Das bedeutet vor allem Zerstörung der riesigen Wälder und damit Vernichtung oder gewaltsame Umsiedlung der Indianer, deren Lebenselement sie sind. Sie wurden enteignet, von Schießkommandos ermordet, ihrer Kultur beraubt und durch Abwurf von mit Arsen gemischtem Zucker oder Verteilung von mit tödlichen Krankheiten verseuchten Kleidern oder einfach durch sogenannte Integration, die erzwungene Umstellung auf europäische Lebensweisen, praktisch liquidiert. Von den schätzungsweise fünf Millionen Indianern, die um das Jahr 1500, vor der Ankunft der Kolonisatoren, das Land bewohnten, sind heute nur noch 150.000 am Leben.

Die Ausrottung der Indianer ist dabei nur ein Teilaspekt der durch die industrielle Erschließung des brasilianischen Dschungels geschaffenen Veränderungen. Das Amazonasgebiet stellt etwa ein Drittel aller Wälder und ein Fünftel aller Frischwasserreserven der Erde. Zwischen 1966 und 1975 wurden bereits 24% des bewaldeten Gebietes gerodet. Da das Amazonasbecken ungefähr die Hälfte aller der Erdatmosphäre zugeführten Sauerstoffmengen liefert, entspricht die Vernichtung der Wälder durch Feuer, Traktoren und Chemikalien, die die brasilianische Regierung seit Jahren systematisch fördert, etwa der Austrocknung eines der Weltmeere mit unabsehbaren Konsequenzen für die ganze Menschheit. Die an der ‘Erschließung’ des brasilianischen Urwalds beteiligten Banken werben indessen weiterhin für ihre Sache mit der Behauptung, die Ausbeutung der Schätze des Amazonasgebietes geschehe nur zum Segen der Menschheit.

Im Unterschied zu den mittelamerikanischen Hochkulturen der Mayas und Inkas, denen die Gier der europäischen Abenteurer nach Gold und anderen Schätzen schon viel früher den Garaus machten, wissen wir immer noch wenig über das Leben der brasilianischen Indianer, außer daß sie dem Untergang geweiht sind. Jede Gelegenheit zu erfahren, was es mit ihrer Kultur auf sich habe, und an den von ihnen hergestellten Kunst- und Gebrauchsgegenständen etwas von ihrem Wesen, der fremden Gedankenwelt, ihrer Sittenordnung, ihrer Mentalität zu erfahren, muß uns also willkommen sein.

Die Ausstellung im Museum of Mankind zeigt – neben ein paar antiken Keramiken der Marajoara- und Santarem-Kulturen aus vorkolononisatorischer Zeit und bemalten Keramiken, Krügen, Töpfen und Schalen der Kadiweu-Indianer aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – eine Serie von Reproduktionen der außergewöhnlichen, höchst verschiedenartigen Formen und Muster der bei den Kadiweu des Mato Grosso und den Yawapiti-Indianer des oberen Xingu-Gebietes üblichen Gesichts- und Körperbemalung, dazu eine größere Anzahl von dekorativ bemalten Keramiken der Kadiweu-, Waura- und Menihako-Stämme aus jüngerer Zeit. Einige der Tonarbeiten haben die Gestalt von Reptilien, Fischen, Vögeln oder anderen Tieren der heimischen Umwelt. Daneben finden wir eine überaus eindrucksvolle Auswahl von buntfarbenem Federschmuck, gewebten Textilien, Hängematten und Korbwaren der Kaiua- und Apalai-Indianer, Musikinstrumente aus dem Gebiet des oberen Xingu (Flöten, Rasseln und Trommeln) und eine Waffensammlung (Blasrohre, Bogen und Pfeile, Lanzen und Speere).

Die mit erstaunlichem Sinn für ästhetische Qualitäten und größter technischer Perfektion hergestellten Gegenstände sind reichhaltig verziert. Neben den naheliegenden Tiermotiven beeindruckt die Vielfalt abstrakter Formen und Dekorationsmuster, meist geometrische Figuren in unsymmetrischer Anordnung – girlandenartig verbundene Dreiecke, Rhomben, Stufen-, Spiral- und Gittermuster, Schraffuren, Bogen- und Kreiskompositionen. Manchmal erinnern sie entfernt an gewisse Maja- und Inka-Ornamente, hier und da aber auch an Motive des europäischen Jugendstils und der Art-Deco-Periode der Zwanzigerjahre.

So willkommen also jede Gelegenheit ist, hier beispielsweise die herrlichen Federschmuckstücke der Urupur-Kapor, Kaiopo- und Eripactsa-Stämme besichtigen zu können, die riesigen rot-blau-gelben Sonnenräder aus Papageien-, Toucan- oder Dschungeltruthahnfedern, so bestürzend ist die Tatsache, daß die mit Unterstützung des brasilianischen Ministeriums für Auslandsbeziehungen, brasilianischer Banken, dem Winston Churchill Memorial Trust und vor allem dem berüchtigten Nationalen Brasilianischen Indianerrat FUNAI ermöglichte Ausstellung, die das Britische Museum protegiert, als gezielter Versuch der Irreführung des Auslandes über die Vorgänge im brasilianischen Urwald angesehen werden muß. Der zum Schutz der Eingeborenen 1967 gegründete, dem Innenministerium unterstellte Indianerrat FUNAI hat bei dem größten staatlich sanktionierten Landraub der Neuzeit, der zum Vernichtungsfeldzug der Großgrundbesitzer und multinationalen Konzerne gegen die in den Dschungeln der brasilianischen Flüsse lebenden Indianer wurde, eine im höchsten Maße unheilvolle Rolle gespielt.

In dem an die Presse ausgegebenen Handzettel heißt es verlogen, daß sich die Kultur der Indianer bemerkenswerterweise bis heute erhalten habe. Auf die Frage nach ihrer Meinung zu den Schreckensmeldungen über systematischen Völkermord erklärte Sandra Wellington, die Tochter des ehemaligen britischen Presseattachés in Brasilien, die die ausgestellten Kostbarkeiten im Tauschhandel gegen tschechische Glasperlen, Buschmesser und Äxte erstand, davon wisse sie nichts. Und mit beispiellosem Zynismus: Sie interessiere sich nur für die Kunst dieser Leute, nicht aber für Politik.

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