die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1974
Text # 76
Autor John Hopkins
Theater
Titel Next of Kin
Ensemble/Spielort National Theatre/London
Inszenierung/Regie Harold Pinter
Uraufführung
Sendeinfo 1974.05.04/DLF Köln/ORF Wien 1974.05.09/BBC German Service/Gehört, Gesehen, Gelesen

Die Londoner Kritiker waren sich einig: das Stück sei dickblütig, langatmig, uninteressant, übergewichtig, begrenzt, eine traurige Sammlung von Fallstudien. Gemeint war das Schauspiel ‘Next of Kin’ von John Hopkins, das soeben am Nationaltheater uraufgeführt wurde. Die Einmütigkeit der namhaften Kollegen hat etwas ausgesprochen Ärgerliches, wenn man selbst entschieden anderer Meinung ist. Der besagte Verriß könnte auf ein Mißverständnis zurückzuführen sein und mit dem Vorurteil zusammenhängen, daß Hopkins vor allem ein Fernseh- und Filmautor sei, der seine Figuren mit den Augen einer Kamera sieht und das Close-Up, die Nahaufnahme, braucht, um die Feinheiten der Textur zu übermitteln. Im übrigen hat Hopkins mit der Londoner Presse noch niemals Glück gehabt; er ist in dieser Hinsicht Kummer gewöhnt.

‘Next of Kin’ macht es allerdings seinem Publikum nicht leicht; es verlangt besonders viel Geduld und erhöhte Aufmerksamkeit. Denn was da auf der Bühne zwischen den acht Personen sich abspielt, wirkt zunächst wie ein Blick durchs Schlüsselloch ins Wohnzimmer der Nachbarn, eine Versammlung erschütternd unattraktiv bourgeoiser Charaktere, die sich zum sonntäglichen Familientreffen eingefunden haben und durch ein ziemlich harmloses Ereignis dazu gebracht werden zu offenbaren, was sie unter der Oberfläche höflich-anständigen Betragens wirklich für- und gegeneinander fühlen und denken.

Das Publikum hat anfangs Mühe, die Familienverhältnisse zu durchschauen. Da ist Brian, in dessen Wohnung das Treffen stattfindet, ein Autohändler, der mit seiner Arbeit nicht glücklich ist und in der Familie als Versager gilt; dann seine Ehefrau Susan – die einzige durchgehend positive Figur des Stückes; und deren Kinder. Brians ältere Schwester Kathleen ist ein kalt berechnendes, verbittertes, unerträgliches Weibsbild, ihr Mann ein geldgieriger Häusermakler. Barbara, die jüngere Schwester, bedrängt Brian unablässig mit den Problemen ihrer zweifelhaften Privataffären und ihrer eigenartig rücksichtslosen, kaum noch geschwisterlichen Zuneigung. Ihr Ehemann Tim erfährt im Laufe des Abends, daß sie ihn verlassen will und er nicht der Vater ihres Kindes ist. Und schließlich sind da noch Brians Bruder Stephen und ihre alte Mutter, die man zur Aufgabe ihres Hauses zwingen will, weil man es teuer verkaufen könnte, wenn die Alte das Feld geräumt hat.

Bosheiten, Mißgunst und Eifersucht, Heuchelei und Betrug, direkt und indirekt ausgeübter Zwang, seelische Grausamkeiten in jeder denkbaren Form, Gift und Galle sind der Familienkitt, der die skrupellos egoistischen Einzelinteressen verbindet. Auf die durch Heirat mit der Familie liierten Anderen wirkt der Familienverband wie ein Moloch, der alles vereinnahmt und gegen den jeder Widerstand sinnlos ist.

Brian entzieht sich dem auf ihm lastenden Druck, indem er bereits im ersten Akt des Stückes einfach verschwindet. Seine plötzliche Abwesenheit hat katalysatorische Funktion und löst im weiteren Verlauf des Abends Auseinandersetzungen aus, die die atavistischen Impulse der nach außen stets noch auf bürgerliche Respektabilität bedachten Familienmitglieder bloßlegen.

Harold Pinter als Regisseur hat die feingewebten Details dieses großartig scheußlichen Familienbildes mit Akribie herauspräpariert. Die Inszenierung ist strikt realistisch und dennoch klar bis in die offenen Enden, die weißen Flecken unerklärter Handlungsmotive, die, weil sie unbestimmt bleiben, den Zuschauer zu kritisch analysierenden Gedankengängen anregen, welche ihm helfen könnten, sich selbst im Verhältnis zur eigenen Umwelt besser zu verstehen.

Kurz, ein lohnendes, wie ich glaube, gutes Stück in einer hervorragenden Inszenierung. Die spürbare Verlegenheit der Zuschauer nach dem Ende der Vorstellung schien zu beweisen, daß man die Botschaft nur allzu gut verstanden hatte.

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