“Zur Selbstverständlichkeit wurde“, heißt es am Anfang der ‘Ästhetischen Theorie’ von Adorno, “daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist ... nicht einmal ihr Existenzrecht”. Der provokatorische Satz bezieht sich auf alle Bereiche des künstlerischen Ausdrucks. Der ihm zugrunde liegende Gedanke trifft sich mit den Beobachtungen im Bereich des Theaters, die (unter anderem) das Gefühl vermitteln, daß unsere theatralischen Veranstaltungen als schematische Übungen der Reproduktion des Immergleichen jeden Sinn verloren haben, daß Theater als Kunstform heute praktisch ausgespielt hat. Kein Wunder also (möchte man sagen), daß immer weniger Leute ins Theater gehen, denn was sie dort erwartet, scheint zu den Erfahrungen unseres Alltags keinen Bezug mehr zu haben; wie andererseits dort, wo das Theater sich ganz bewußt auf die realen Konflikte einläßt, das genuine Vergnügen, die sinnliche Lust am Spiel, der Spaß an der Sache von mehr oder weniger indoktrinären Formen der direkten Aufklärung über den unheilvollen Zustand der Welt regelrecht überwuchert wird. Wo das Theater die Theatralisierung der Ideen, für die es sich engagiert, vergißt und dem Publikum Kritik an den Verhältnissen, in denen es lebt, gewissermaßen nur als Pflichtaufgabe nahe legt, statt als ein Abenteuer, ein ebenso sinnliches wie geistiges Vergnügen, das neue Appetite weckt der Lust an einem vorstellbaren besseren Dasein, da treibt man die Leute gewaltsam aus dem Haus.
Diese kritischen Gedanken zur allgemeinen Situation des heutigen Theaters sollen dem Hörer oder Leser dieser Zeilen die sonst vielleicht kaum verständliche Begeisterung angesichts der Uraufführung des Stückes ‘The Ragged Trousered Philanthropists’ (Die Menschenfreunde mit den zerlumpten Hosen) erklären, eine Inszenierung der Joint Stock Theatre Group in den Riverside Studios, Londons neuem Kulturzentrum, das in den wenigen Monaten seines Bestehens bereits zum wichtigsten Londoner Treffpunkt der Künste geworden ist. Die große Begeisterung, von der die Rede ist, darf nämlich auch als Ausdruck der Freude verstanden werden über die Bestätigung, daß die Kunst des Theaters, gegen allen Anschein, überlebt hat und, sofern wir nur wissen, worauf es ankommt, neue Dimensionen auftun kann.
Der Text des Stückes von Stephen Lowe basiert auf dem am Anfang dieses Jahrhunderts geschriebenen, 1914 postum veröffentlichten Roman gleichen Titels von Robert Tressell, einem 1871 in Dublin geborenen, im Alter von 40 Jahren an Tuberkulose verstorbenen Autor, den bis zur späten Wiederentdeckung seines Buches 1956 so gut wie niemand kannte. Heute gilt er als “erster erfolgreicher Roman über das Leben der englischen Arbeiterklasse“, ein Dokument über die historischen Voraussetzungen und Grundlagen der abgewirtschafteten britischen Klassengesellschaft.
Buch und Stück gehen zurück auf das Jahr 1906 und beschreiben die Arbeit einer Gruppe von Malern und Anstreichern, die – folgt man der Unterstellung des ironischen Titels – nur aus Menschenfreundlichkeit gegenüber ihren reichen Arbeitgebern das Elend ihrer Verhältnisse erdulden. “Ein gelernter Maler“, heißt es im Programmheft zur Aufführung, “konnte in einer guten Woche £1. 5s verdienen” (nach heutiger Währung umgerechnet etwa 4,60 DM). Für etwaige Arbeitsunterbrechungen, zum Beispiel wegen schlechten Wetters, wurde er nicht entschädigt. Für Wohnung und Essen aber (so wird uns gesagt) brauchte damals ein Ehepaar ohne Kinder ein Minimum von etwas mehr als £1, ohne Berücksichtigung der Kosten für Kleidung, Werkzeug oder Fahrgelder. Ein Dasein als Hungerleider.
In einer der eindrucksvollsten Szenen des Stückes, das mit großer spielerischer Leichtigkeit, Humor, geistiger Klarheit und atemberaubender Präzision im musikalischszenischen Arrangement vorgestellt wird, erklärt einer der Maler seinen Kollegen “den großen Geldtrick”, mit dem die Unternehmer ihren Arbeitern den Hungerlohn, den sie ihnen zahlen, wieder aus der Tasche ziehen. In William Gaskills Inszenierung wird die anschauliche Demonstration der Mechanismen des kapitalistischen Ausbeutungssystems zu einem theatralischen Kabinettstückchen.
Der erste Akt zeigt die Anstreicher bei der Arbeit in dem Hause eines wohlhabenden Mannes, ständig bespitzelt, gehetzt und bedroht von einem mißtrauischen Aufseher; der zweite Akt zeigt den einmal im Jahr stattfindenden Ausflug zu einem Gartenrestaurant, wo den Proletariern das Gefühl gegeben werden soll, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsame Interessen verbinden. Dieser Mittelteil endet mit einer Kutschenpartie nach Hause, eine theatralisch ungemein effektvolle Szene, in welcher die auf zwei Tischen stehenden Männer in rasender Fahrt durch die Nacht zu jagen scheinen.
Die unter Gaskills Regie von den Schauspielern der Joint Stock Theatre Group entwickelte Aufführung wird zu einem Preislied auf die Würde der Arbeit, auf das trotz schlimmster Ausbeutung der Lohnabhängigen erhaltene Potential an Lebensmut und den Ethos der Männer, die die Zukunft lehren wird, daß sie die Bedingungen, unter denen sie leben, nur ändern können, wenn sie zusammenhalten und das System selbst, das sie zu Arbeitssklaven macht, schließlich aus den Angeln heben.
Die Londoner Kritiker stimmten je nach politischer Couleur in den Jubel des Publikums über die poetische Inszenierung ein oder schalten das Stück und seine Darstellungsweise einfach naiv. “Wie in der Inszenierung des Schauspiels ‘Fanshen’”, schrieb der Kritiker der ‘Financial Times’, “fehlt auch dieser Aufführung der Joint Stock Theatre Group jede Art von verkrampfter Besserwisserei und Selbstgerechtigkeit bei der Präsentation der sozialistischen Fragestellung; das Ergebnis ist ein wundervoller, erhebender Abend, der alles übertrifft, was ich in diesem Jahr gesehen habe”. Der Kritiker der ‘Times’ sprach ebenso ergriffen von einer theatralischen “Meisterleistung”.
Es ist eine Aufführung, die (wie damals ‘Fanshen’) nicht moralisiert, sondern durch ihre Menschlichkeit für die Sache, die sie vertritt, gewinnt.