die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1982
Text # 171
Autor Christopher Hampton/George Steiner
Theater
Titel The Portage to San Cristobal of A.H.
Ensemble/Spielort Mermaid Theatre/London
Inszenierung/Regie John Dexter
Hauptdarsteller Alec McGowen
Uraufführung
Sendeinfo 1982.02.19/DLF/SR/ORF Wien 1982.02.22/SWF Kultur aktuell 1982.02.23/WDR/RB/Nachdruck: Darmstädter Echo

Was wäre, wenn Adolf Hitler über dreißig Jahre nach dem Ende des Krieges von einem israelischen Kommando im brasilianischen Dschungel gefunden würde und man ihm Gelegenheit gäbe zu sprechen? Ließe sich vorstellen, daß auch, wenn der Teufel selber spräche, uns noch eines seiner Argumente erreichen könnte, die rechtfertigen wollen, was uns als größtes Verbrechen der Menschheit erschien?

George Steiners Roman ‘The Portage to San Cristobal of A.H.’ (Die Überführung des A.H. nach San Cristobal) in der Bühnenfassung von Christopher Hampton gibt uns zu verstehen, daß wir auch einem Massenmörder Hitler gegenüber keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit haben. Steiner spielt den Advokaten des Teufels. Als Wissenschaftler und Denker stellt er die Frage nach der Wahrheit, die Selbstbetrug und Heuchelei mit einem fast undurchdringbar dichten Gespinst von Lügen umgeben haben, Bedingungen der Möglichkeit und Mittel zum Zwecke der Erhaltung jener doppelten Moral, die den Imperialisten des Westens heute den Mut gibt, den Imperialisten des Ostens von der Verletzung der Menschenrechte in Polen zu sprechen, während sie selbst in El Salvador die systematische Ermordung von Zehntausenden durch Finanzierung und Ausrüstung der Mordkommandos auf dem Gewissen haben.

Lieber, Leiter der israelischen Einheit, die den 94-jährigen Adolf Hitler bei guter Gesundheit im Urwald entdeckt hat und ihn durch die unwegsamen Sumpfgebiete des Amazonas nach San Cristobal überführen soll, beschwört seine Leute über Sprechfunk: Gebt ihm keine Gelegenheit zu reden! Wenn ihr ihn sprechen laßt, wird er euch menschlich erscheinen; ihr werdet nicht länger glauben, was er tat. – Hitler wird zur Verkörperung des Bösen schlechthin, schwarzes Gegenbild des seit Jahrtausenden erwarteten Messias, des Anti-Messias, über den es heißt: “Es wird kommen ein Mann, dessen Mund wird sein wie ein Feuerofen und seine Zunge wie ein Schwert. Er wird sprechen die Sprache der Hölle und wird sie anderen lehren. Er wird kennen die Laute des Wahnsinns und des Abscheus, und denen, die sie hören werden, wird es scheinen wie Musik”.

Während die Israelis ihren Gefangenen durch den Dschungel treiben und der Leiter der Operation durch Aufzählung von Namen, Orten und Vorgängen die Erinnerung an die Verbrechen der Nazizeit wachzuhalten versucht, ist das Geheimnis nach außen gedrungen, und die Regierungen der ehemaligen Alliierten, der beiden deutschen Staaten und Österreichs als Geburtsland des großen Diktators haben begonnen, darüber zu streiten, wie und wo man Hitler vor Gericht stellen müsse. Eine Gruppe von Abenteurern will den prominenten Gefangenen aus der Hand der Israelis befreien und den interessierten Staaten meistbietend verkaufen.

Das israelische Kommando scheint zu ahnen, daß es San Cristobal nicht erreichen wird. So entschließt man sich, einen Prozeß zu improvisieren, bei dem der Greis endlich das Wort ergreifen darf. Die fast halbstündige gewaltige Rede wird zum Höhepunkt des Werkes, das sich mühsam über nahezu zwei ereignislose Stunden hinweg auf die große Schlußpointe bewegt, die Apotheose des Bösen, derentwillen es in London schon im voraus so viel Aufsehen gab, daß man wohl enttäuscht worden wäre, wenn die Darstellung Hitlers durch Alec McGowen die sonst unbedeutende Inszenierung eines recht schwachen Theaterstückes nicht durch einen seltenen Augenblick großer Schauspielkunst neben der von Steiner beabsichtigten Befragung unseres Gewissens auch zu einem theatralischen Ereignis gemacht hätte, über das zu reden sich lohnt.

Steiner läßt Hitler erklären, der in der jüdischen Religion begründete Gedanke des von Gott auserwählten Volkes sei Vorbild gewesen für die Idee “Ein Reich, ein Volk, ein Führer”, der Rassismus der Nazis nur eine schwache Kopie des Zionismus. Der unselige Drang zur Transzendenz, das übermenschliche Ideal als Maßstab für den Menschen, der den wirklichen Menschen überfordernde, darum inhumane Anspruch sowohl der zionistischen wie der christlichen Religion und schließlich – wieder aus jüdischem Geist geboren – der Marxschen Idee eines Himmelreichs auf Erden und die aus diesen Vorstellungen entwickelte Moral der ‘Erpressung’ seien der eigentliche Gegenstand seines Hasses gewesen, gibt Hitler zu verstehen, doch auch Modell seiner ‘Endlösung’.

“Nur einer von uns wäre in der Lage gewesen, dergleichen ins Werk zu setzen“, murmelt der vom Sumpffieber geschüttelte Israeli Guideon kurz vor seinem Tod. Hitler selbst Jude? Ein schrecklicher Gedanke. – “Ich war nur ein Mann meiner Zeit“, erklärt Hitler, “der tat, was viele andere getan haben wollten und lange ohne jeden Einspruch geschehen ließen“. Die Belgier hätten im Kongo zwanzig Millionen Menschen ermordet, Stalin dreißig Millionen; die Engländer seien Erfinder der Konzentrationslager, wie jeder wisse; und was sei schon die Bombardierung von Coventry gegen den Massenmord von Dresden und Hiroshima. “Ich schuf die Voraussetzungen zur Gründung des Staates Israel. Der Holocaust gab euch den Mut zu dem Unrecht, den Araber aus seiner Heimat zu vertreiben, weil er eurer göttlichen Inspiration im Weg stand“. Die ‘Endösung’ werde heute mit anderem Sinn in weltweitem Maßstab fortgeführt.

Provozierende Thesen, die der Verkörperung des absolut Bösen in den Mund gelegt werden, nicht um zu rechtfertigen, was sich nicht rechtfertigen läßt, sondern um aufzurütteln. Es ist ein Gedankenspiel, das uns den Spiegel vorhält und spricht: erkenne dich selbst.

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