die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 131
Autor Tom Stoppard & André Previn
Theater
Titel Every Good Boy Deserves A Favour
Ensemble/Spielort Mermaid Theatre/London
Inszenierung/Regie Trevor Nunn
Sendeinfo 1978.07.05/SWF Kultur aktuell/DLF/RB 1978.07.07/ORF Wien/Nachdruck: Darmstädter Echo

Tom Stoppards ‘Stück für Schauspieler und Orchester’ ‘Every Good Boy Deserves A Favour’ (Jeder brave Junge verdient Belohnung) ist meines Wissens der erste Versuch eines Bühnenautors, ein Schauspiel zu schreiben, in welchem ein ganzes Orchester eine Hauptrolle übernimmt und als Partner der Darsteller mitagiert. In der Zusammenarbeit mit André Previn, dem Komponisten und Leiter des Londoner Symphonieorchesters, entstand ein höchst originelles Werk, das sich keinem der üblichen Gattungsbegriffe zuordnen läßt, ein hermaphroditisches Gebilde, in welchem Text und Musik auf einzigartige Weise miteinander dialogisieren.

Als ‘Every Good Boy Deserves A Favour’ im vergangenen Jahr im großen Konzertsaal der Royal Festival Hall mit dem gesamten Londoner Symphonieorchester unter der musikalischen Leitung von André Previn uraufgeführt wurde, löste das Werk bei denen, die das Glück hatten, der einmaligen Veranstaltung beizuwohnen, zwar ein gewisses Maß an staunender Bewunderung, doch ebenso viel Unbehagen und Zweifel aus. Die riesige Halle und das große Orchester erdrückten das Spiel der Darsteller, die Subtilitäten des Textes gingen verloren, das ganze erschien als nicht mehr denn ein cleverer Einfall des brillanten Tom Stoppard, der Previn zur Komposition eines musikalischen Werkes im Geiste Shostakowitschs angeregt hatte, bei welchem die Quadratur des Kreises – die neuartige Verschmelzung der Gattungen Theater und Musik – nur in groben Annäherungswerten und auf Kosten der literarischen Teile gelungen zu sein schien.

Die neue Aufführung im sehr viel intimeren Mermaid Theatre mit einem auf 32 Musiker verkleinerten Kammerorchester läßt das Werk völlig verändert erscheinen. Musik und szenische Darstellung sind nun gleichgewichtig und spielen auf verblüffende Weise miteinander, wie Partner in einem kunstvollen Dialog, der in der Inszenierung von Trevor Nunn, dem künstlerischen Direktor der Royal Shakespeare Company, durch makelloses Timing, die nahezu perfekte Synchronisation von Wort und Musik, besticht und dem begeisterten Rezensenten wieder einmal auf schlagende Weise bewies, daß theatralische Inszenierungen wie musikalische Partituren erarbeitet werden sollten und unsere Schauspieler von der größeren technischen Präzision der Musiker manches lernen könnten.

Das Stück handelt von zwei Insassen eines Leningrader Geisteskrankenhospitals. Zwei Männer, die, wie der Zufall es will, den gleichen Namen tragen, Alexander Iwanow, bewohnen gemeinsam eine Zelle. Der eine leidet an der Einbildung, daß er stets ein großes Orchester um sich habe; der andere ist ein politischer Fall: man hat ihn verhaftet und in eine Irrenanstalt gebracht, weil er dagegen protestierte, daß man geistig gesunde Menschen verhaftet und in Irrenanstalten einsperrt. Der Arzt, dem beide regelmäßig vorgeführt werden, bemüht sich darum, den Kranken davon zu überzeugen, daß er kein Orchester habe, was zu den verrücktesten Komplikationen führt, da die Zelle, in der die Gefangenen leben (ein Podest in der Mitte der Bühne), von einem für alle sichtbaren Orchester umgeben ist, das immer wieder zu musizieren beginnt, wenn der Kranke es zu hören glaubt, zumal der Arzt selbst Mitglied eines Orchesters ist und mit seiner Geige gelegentlich unter den echten Musikern auf der Bühne deren Existenz er dem Patienten auszureden versucht, Platz nimmt, um mitzuspielen.

Der zweite Iwanow soll dagegen davon überzeugt werden, daß die Wahrheit, die er weiß und selbst erfahren hat, nämlich daß man Gesunde in Irrenanstalten steckt, ein Wahn sei: “Die Meinungen, die du vertrittst, sind die Symptome deiner Krankheit”. Man möchte ihn loswerden, abschieben, kann dies aber nur vertreten, wenn er sich von dem ‘Wahn’ der Wahrheit befreien wolle. Der Gefangene weigert sich. Der Chef der Anstalt, ein ‘Sprachwissenschaftler’ im Rang eines Hauptmanns, löst schließlich das Problem durch einen genialen Einfall. Er begibt sich persönlich in die Zelle der beiden Iwanows und befragt den Musikbesessenen, ob er glaube, daß man gesunde Menschen in Irrenhäuser stecke, den Politischen, ob er ein Orchester besitze, und als beide verneinen, verfügt er: “Den Männern fehlt absolut nichts. Entlassen!”.

Witz und Ironie, die Brillanz der irrsinnig komischen Dialoge und die Absurditäten der Handlung können und sollen nicht darüber täuschen, daß dem Stück, das sich als Farce gibt, eine bitterböse Realität zugrundeliegt: der Wahnsinn, Gesunde als Wahnsinnige zu behandeln, nur weil ihre Ansichten mit der anbefohlenen Ideologie sich nicht in allen Punkten decken. Der coup de théâtre am Schluß des Stückes läßt keinen Zweifel daran, daß die Wirklichkeit solche märchenhaften happy ends nicht zuläßt.

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