die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1987
Text # 219
Autor Susan Yankowitz
Theater
Titel Alarms
Ensemble/Spielort Monstrous Regiment/Riverside Studios/London
Uraufführung
Sendeinfo 1987.02.07/SWF Kultur aktuell/DLF/BR/ORF Wien 1987.02.09/SRG Basel/Nachdruck: Darmstädter Echo

Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs Priamos, die sich dem Gott Apollon versagt und sich dafür den Fluch, die Zukunft zu wissen, eingehandelt hatte – Kassandra, die unglückselige Warnerin vor der großen Katastrophe, die keiner wahrhaben will, ist die zentrale Gestalt des Stückes ‘Alarms’ von der Amerikanerin Susan Yankowitz, geschrieben für die englische Frauentheatertruppe Monstrous Regiment, die es in den Londoner Riverside Studios zum ersten Mal auf die Bühne brachte.

Angekündigt als ‘surrealer Thriller’, entpuppt sich das Stück als eine szenische Collage zum Thema Selbstvernichtung des Menschen, ein Reflex auf das Tschernobyl-Trauma, das uns vermutlich nur darum so in die Knochen ging, weil der Reaktorunfall, der eigentlich längst zu erwarten war, nur düsterste Ahnungen zu bestätigen schien, die zu haben es längst keines sechsten Sinnes mehr bedurfte. Daß die Autorin nach dramaturgischen Regeln nicht fragt und den Assoziationen sich überläßt, die ihr und uns aus der Gegenwart ins Gesicht springen; daß sie Mythos und Gesellschaftspolitik, Vergangenes und Zukünftiges, Kassandra und die moderne Medizinerin Cas ‘zusammendenkt’ und so sehr Verschiedenes ineinander aufgehen läßt, macht das Stück so wenig “surreal”, wie es durch das Fehlen jeder Spannung auf das uns bekannte Ende, vor welchem die Warner vergeblich zu warnen versuchen, auch nichts von einem “Thriller” hat.

Es ist die immerfort Ärgernis erregende, Abwehr provozierende, schließlich Verdruß und Langeweile verbreitende und dennoch bitter notwendige Wiederholung der fast zwanghaft verdrängten Wahrheiten, die der Kassandra unserer Tage als Spruchbänder des Todes aus dem Munde flattern: Verseucht, vergiftet ist die Erde, die uns ernährt, das Wasser, das wir trinken, die Luft, die wir atmen – die Zahl der Chromosomenmutationen bei Pflanzen, Tieren und Menschen nimmt auf erschreckende Weise zu, ebenso die Fälle von Sterilität – der Krebs frißt sich in uns hinein; Haut, Knochen, Blut, selbst die Milch in den Brüsten der jungen Mütter vergiftet, verseucht – es ist das Ende, wir kommen zuende, Endspiel; unsere Sonne geht unter.

Cassandra alias Dr. C. wird allen zum Ärgerniß. Daß sie vor Röntgenbestrahlungen warnt, bringt die Kollegen auf. Ihre Kompromißlosigkeit führt zum Bruch mit dem Geliebten. Weil sie nicht schweigen kann, wird sie durch ‘Institutionalisierung’ mundtot gemacht. Für die anderen ist damit der Fall erledigt. Man kehrt zur Tagesordnung zurück, zur Vorbereitung des Weltuntergangs. ”Kassandra“, heißt es im letzten Satz, “Kassandra war nur eine Nebenfigur”.

‘Alarms’ von Susan Yankowitz zeigt einmal mehr, daß die Absingung der Litanei der bösen Wahrheiten, die gesagt werden müssen, die notwendige Wiederholung der Appelle an das Gewissen der Menschheit, die alarmierende Botschaft allein noch lange nicht gutes Theater ergeben. Von den erhebenden Gefühlen, die mancheiner noch von der Kunst erwartet, ganz zu schweigen.

Die Engländer, die, begünstigt durch geographische und meteorologische Umstände, die Stickoxide ihrer Industrie und die radioaktiven Abwässer des “schmutzigsten Kernreaktors der Welt” ohne größere Folgen für sie selbst exportieren, sich wohl auch deshalb weniger betroffen wähnen und, wie es scheinen will, sowieso der Versuchung besonders gern erliegen, den Kopf in den Sand zu stecken, Probleme zu ignorieren und dem eigenen Niedergang, einfältig oder zynisch lächelnd, tatenlos zuzuschauen – die Engländer haben auf Lehrstücke aller Art seit je besonders gelangweilt reagiert.

Und seien wir ehrlich: Wer von uns will sich auch noch im Theater daran erinnern lassen, daß wir Bewußtsein verdrängen, was auf uns zukommt nicht wahrhaben, einfach nicht denken wollen und lieber festhalten an dem Glauben, alles sei ja nur halb so schlimm und auch morgen das Leben noch lebenswert.

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