die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1990
Text # 256
Autor Anton Tschechow
Theater
Titel Three Sisters
Ensemble/Spielort Gate Theatre Dublin/Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Adrian Noble
Hauptdarsteller Cyril Cusack/Sorcha Cusack/Sinead Cusack/Niamh Cusack
Sendeinfo 1990.07.25/SWF Kultur aktuell/RIAS/RB/SRG Basel Nachdruck: Darmstädter Echo

Berufe erben sich in manchen Familien wie eine ewige Krankheit fort. Medizinerfamilien werden zu Brutstätten für neue Mediziner, Juristen zeugen Juristen, Musiker Musiker. Und Schauspieler natürlich Schauspieler. Wenn wir davon seltener hören, dann liegt es wohl daran, daß, wie in normalen Familien, nicht alle gleichermaßen begabt, also nicht gleichermaßen erfolgreich und darum bekannt sind und daß sie selten die Möglichkeit haben, gemeinsam aufzutreten.

Der irischen Schauspielerfamilie Cusack ist in dieser Hinsicht ein seltener Coup gelungen: die Inszenierung von Tschechows ‘Drei Schwestern’, in der die Geschwister Sorcha, Sinead und Niamh Cusack neben ihrem Vater Cyril als Armeearzt Tschebutykin die Hauptrollen spielen. Die Premiere des Stückes im Gate Theatre Dublin unter der Regie des kürzlich zum neuen Intendanten der Royal Shakespare Company ernannten Adrian Noble brachte Schlagzeilen und, wie man hört, viel Beifall der Kritik, so daß man sich entschloß, die Aufführung ins Londoner Royal Court Theatre zu übernehmen.

“Tschechows Dramen wurzeln in besonderen historischen Verhältnissen“, schreibt George Steiner, “und sie enthalten ein starkes Element politischer Ironie und gesellschaftlicher Satire”. Das Schauspiel ‘Drei Schwestern’ entstand im Jahre 1900 und gilt als das vermutlich gelungendste der Tschechowschen Draman, eines der klassischen Werke der Weltliteratur, deren Bedeutung die historischen Bedingungen der eigenen Epoche überlebt hat und darum immer wieder gespielt, immer wieder neu entdeckt werden kann. Entscheidend ist dabei, daß man die klassischen Texte nicht als Museumsstücke vorstellt – oder, gedankenlos desinteressiert am politischen Umfeld der Gegenwart, sie zu bloßen Vehikeln von Schauspielern macht, die es zufällig reizen mag, sich in bestimmten Rollen sehen zu lassen.

Thema des Stückes ‘Drei Schwestern’ ist der Verzicht auf Gegenwart, Leben in der Erinnerung und in der Utopie. Die lähmende Leere, welche die Menschen in Tschechows Dramen umgibt, ist die einer untergehenden Gesellschaftsschicht. Was danach kommen wird, weiß noch keiner genau zu sagen. Man klammert sich an vage Hoffnungen, versteht sich als Übergang. Glücklich, so glaubt man, werden erst spätere Generationen leben können. Schon damals die Vertröstung auf ein Jenseits der Gegenwart, wie dann auch nach der historischen großen Revolution: Glück als Versprechen, das erst in ferner Zukunft sich erfüllen werde und bis heute weitgehend unerfüllt geblieben ist.

Doch solche konkret auf unsere Gegenwart bezogenen Gedanken, die bei der Neuinszenierung eines klassischen Werkes zu diesem Thema aufkommen könnten, scheinen hier sehr fern gewesen und kommen deshalb auch dem Publikum der Dubliner ‘Drei Schwestern’ kaum in den Sinn.

Tschechows Texte sind musikalischen und lyrischen Werken verwandt und lassen sich darum nicht leicht inszenieren. Um noch einmal Steiner zu zitieren: “Die Gestalten bewegen sich in einer Atmosphäre, die auf leiseste Änderung der Intonation reagiert ... Ein Tschechowscher Dialog ist eine Partitur, für Sprechstimmen gesetzt“. Und bis zur Pause nach dem zweiten Akt hatte man auch durchaus den Eindruck, daß Regisseur und Darsteller sehr behutsam zu Werke gegangen seien. Die Charaktere wirken glaubhaft bis in die kleinsten Reaktionen hinein. Den drei sehr unterschiedlichen (auch unterschiedlich begabten) Cusack-Schwestern schienen die Rollen auf den Leib geschrieben zu sein. Die Szenen haben viel Ruhe, die Darsteller geben sich gelöst. Man nimmt sich die Zeit, einander zuzuhören und genau zu reagieren. Was, ganz nebenbei, auch dazu führt, daß viele Momente viel komischer wirken als in anderen Inszenierungen des Stückes (man sollte nicht vergessen, daß Tschechow seine Dramen als Komödien verstand).

Mit dem Beginn des dritten Aktes verändert sich abrupt die Atmosphäre. Dies scheint zunächst vom Bühnenbild auszugehen, einem in den schreienden Farben Grasgrün und Ochsenblutrot mit perspektivischer Verkürzung ausgemalten riesigen Dachzimmer, in dem eine Art Notlager eingerichtet ist. Stille, Ruhe und Genauigkeit scheinen mit einem Schlag dahin. Die klaren Konturen der Hauptrollen verschwimmen. Die Schwestern verhalten sich unsicher, hektisch oder neurotisch und Cyril Cusacks alter Arzt schrumpft zum bedeutungslosen Zwerg. Die Ausdrucksmittel vergröbern. Es ist, als wenn man aus einem fein abgestimmten realistischen Schauspiel in eine expressionistische Skizze hineingeraten wäre; ein Schock, der sich mit dem Beginn des vierten und letzten Aktes wiederholt, wenn die in der Gartenszene auftretenden Personen als dunkle Silhouetten vor grellbeleuchteten, hohen, kahlen Wänden agieren müssen, wie Figuren aus einer Beckett-Welt.

Es erübrigt sich fast zu sagen, daß der reichlich verschrobene Einfall des Regisseurs für seine Inszenierung katastrophale Folgen hat und überaus zwiespältige Gefühle hinterläßt.

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