Panoptikumsatmosphäre, schwül, exotisch, verrückt, schon vor der Vorstellung in der überfüllten Kneipe. Gruppen von jungen Männern in abenteuerlicher Verkleidung, darunter langmähnige Mädchengesichter, andere mit kurzgeschorenen Schädeln, Silberring im Ohr, zerschlissene Bluejeans, Ringelhemd mit Seidenschal im männlichen Ausschnitt. Geschminkte Gesichter unter Räuberhüten. Man kennt sich: überschwängliche Umarmungen, Zärtlichkeiten.
Daneben graublasse Damen (weiblichen Geschlechts) mit blaugrünen Augenhöhlen, langen Wimpern, in Phantasiekostümen aus Urproßmutters Jungmädchentagen; lumpige Schleier, abgetragene Spitzensstolen. Zigarettenrauch. Patschulidüfte und Biergestank. Eine Luft, in der Tat, wie mit dem Messer zu schneiden.
Man war ins Bush Theatre gekommen, einem der populären Londoner Pub-Theater, um Lindsay Kemp zu sehen, “Englands führenden Pantomimen”, oder um die zu sehen, welche gekommen waren, Kemps neue Show zu sehen: ‘Flowers’ (Blumen), “eine Pantomime für Jean Genet”. Es ist eine Projektion von Albtraumphantasien über Sehnsucht und Liebe; Sex, Gewalt und Verbrechen; Varianten homoerotischer Zwänge; Glück, Täuschung, Schmerz und Verzweiflung der im unsichtbaren Käfig irrsinniger Leidenschaften Gefangenen; Glanz und Elend dessen, was den anderen, den ‘Normalen’, das Perverse ist.
Im Halbdunkel vier nackte Jünglinge unter grauen Wolldecken am Boden, winden sich in wollüstigen Träumen; lang gezogenes musikalisch-pantomimisches Crescendo, das auf dem Höhepunkt plötzlich abbricht. Vier, fünf dunkle Gestalten unter bodenlangen schwarzen Schleiern, gramgebeugt, südländische Klageweiber, chorisch bewegt wie ein Schwarm schwarzer Vögel. Auftritt eines engelhaft schönen Jünglings im rotseidenen Priestergewand, ein hohes Kruzifix vor sich hertragend. Verehrung, Entkleidung und wüste Vergewaltigung der priesterlichen Erscheinung zum Geheul elektronischer Musik. Tanz eines irren Mädchens (dem einzigen weiblichen Mitglied der Truppe), dann Mord, Totenklage und Leichenschändung.
Die Stimmung wechselt abrupt. Eine Barszene, Atmosphäre der Zwanzigerjahre, schwüle Musik. Geisterhaft leiser Auftritt einer weißgrau geschminkten Dame: Lindsay Kemp als alternder Transvestit – enge, perlen- und paillettenbesetzte Kappe, Boa, Abendtasche und Fächer; die verstaubte Eleganz einer vergangenen Welt; puppenhaft grazil in der Erscheinung, verhalten kokett in der Bewegung und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Zartheit, Verletzbarkeit, Hoffnung und Melancholie im Blick. Bei seinem Auftritt erstarrt jede Bewegung auf der Szene: da ist nur noch das bleiche Gesicht mit den schwarzbraun geschminkten Bartschatten, rötlichen Backenknochen, den großen glänzenden Augen mit angesetzten Wimpern und diesem üppigen Mund, blumig, obszön wie eine rote Wunde.
Sämtliche Szenen des zweiten Teils kreisen um ein und dasselbe Thema: Aufkeimende Zuneigung zu einem jüngeren Mann, Sehnsucht und Hoffnung, Liebe, die Illusion von dauerhaftem Glück, Angst vor dem Verlust des Geliebten, Enttäuschung, Trauer und tiefe Verzweiflung.
Was sich zunächst an inneren Widerständen gegen den schwer erträglichen Kult ums Perverse bei manchem Zuschauer angestaut haben mochte, vergeht in der Faszination dieser einen Gestalt, der erschütternden Darstellung von unentrinnbarem Leid, dem ewigen Kreislauf von Hoffnung und Entsagung.
Papierblumen werden zum Symbol für Täuschung und leeren Schein, die Künstlichkeit einer Existenz, die auch zentrales Thema ist im Werk von Jean Genet, dem ‘Flowers’ von Lindsay Kemp gewidmet ist.