die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1984
Text # 204
Autor G.F. Newman
Theater
Titel An Honourable Trade
Ensemble/Spielort Royal Court Theatre/London
Inszenierung/Regie Mike Bradwell
Uraufführung
Sendeinfo 1984.10.18/SWF Kultur aktuell/RB/WDR/SR/ORF Wien/SRG Basel 1984.10.19/DLF/Nachdruck: Darmstädter Echo

In G.F. Newmans 1982 uraufgeführtem Stück über Polizeikorruption ‘Operation Bad Apple’ sorgt der Generalstaatsanwalt in Absprache mit dem Innenminister für den Abbruch der Untersuchung, die der Öffentlichkeit den Beweis geliefert hätte, daß hunderte von Londoner Polizeibeamten bis in die höchsten Ränge hinauf seit vielen Jahren in Bestechungsaffären verwickelt waren. Newmans neues Stück mit dem ironischen Titel ‘An Honourable Trade’ (Ein ehrenwertes Gewerbe) beginnt, wo “Operation Bad Apple’ endete, bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was den höchsten Justizbeamten der britischen Regierung veranlassen kann, die Aufklärung schwerer Vergehen zu behindern.

Newmans Texte sind das Ergebnis jahrelanger Recherchen. Warum, fragt der Autor, lassen sich führende Politiker auf sexuelle Affären ein, die ihrer politischen Karriere zum Verhängnis werden und dem Ansehen ihrer Partei beträchtlichen Schaden zufügen können (der Profumo-Skandal in den sechziger Jahren und die Affäre um den letzten Vorsitzenden der Konservativen Partei Cecil Parkinson sind nur die spektakulärsten Beispiele aus einer ganzen Reihe ähnlicher Fälle)? ‘An Honourable Trade’ ist der Versuch, hinter die Kulissen des britischen Parlamentes zu leuchten. Es geht um die Moral der Abgeordneten, genauer gesagt, um die Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und hinter der Maske falscher Tugendhaftigkeit verborgener Unmoral.

Der Generalstaatsanwalt wird diesmal zur zentralen Figur des Stückes, zum Drehpunkt der Ereignisse, ein Mann, der dem auf ihn ausgeübten Druck, von einer Verfolgung der Schuldigen abzusehen, nachgeben muß, weil er selbst in großen Nöten ist, zur Kompensation eines Mutterkomplexes bei einer Prostituierten regelmäßig Zuflucht sucht, während seine Frau mit dem Vorsitzenden der Konservativen Partei ein Verhältnis hat. Als sie ihrem Ehemann eröffnet, daß sie von seinem Parteikollegen ein Kind erwartet, dreht der Generalstaatsanwalt durch und vergewaltigt nicht nur sein Call-Girl, sondern auch die minderjährige Freundin seines Sohnes; wodurch sein politisches Schicksal besiegelt scheint.

Die bitter-traurige Moritat findet ein überraschend glückliches Ende, weil die Premierministerin, um ihrer Partei den öffentlichen Skandal zu ersparen, wie ein deus ex machina eingreift, ihren Generalstaatsanwalt zum Lordkanzler und Präsidenten des Oberhauses, also zur höchsten richterlichen Instanz des Landes, befördert und dafür sorgt, daß seine Frau nach erfolgreicher Abtreibung an die Seite ihres Mannes zurückkehrt und die peinlichen Beweise über Polizeikorruption ein für allemal begraben werden.

Daß die Geschichte Fiktion ist und durch die Verdichtung der auf die Hauptfigur konzentrierten skandalösen Ereignisse grotesk-irreal erscheint, ändert nichts an ihrem Wahrheitsgehalt, der Tatsache, daß ihr Autor nichts anderes getan hat, als die aus den echten politischen Skandalen der letzten Jahre bekannten Einzelheiten zu kompilieren, mit der erklärten Absicht, “einen Mythos zu durchstoßen, um zur Wahrheit der Sache zu gelangen“.

Newmans psychoanalytischer Technik gelingt es, für die bislang unerklärliche Tatsache, daß die sensationellsten Sex-Skandale stets aus dem konservativen Lager kamen, eine halbwegs plausible Erklärung zu finden: “Die Trennung von Mutter und Kind“, sagt Newman, “ findet (in diesen Kreisen) in sehr frühem Alter statt und die emotionale Unterernährung setzt ein“. “Mein Generalstaatsanwalt ist das Produkt eines uneingestandenen inzestuösen Verhältnisses zur Mutter, und sein Problem wird verschärft durch eine Premierministerin, die ihre Partei als gestrenge Mutterfigur beherrscht“. “Es geht um das Thema sexuelle Repression und Oppression“. Selbstherrlichkeit und Arroganz der männlichen Politiker erscheinen als Ausdruck der Überkompensation emotionaler Verunsicherung. Unfähig zur Liebe, suchen sie Befriedigung in der Ausübung von Gewalt, die sie Frauen antun.

Das Stück gibt zu verstehen, daß unsere führenden Politiker nicht weniger fehlbar sind als jeder andere, nur mit dem Unterschied, daß sie trotz allem über das Leben sehr vieler Menschen bestimmen. Die Not, ihr eigenes Versagen hinter lügnerischer Fassade verstecken, dem Volk, damit es ihnen und ihrer Politik vertraut, stets als Muster von Sitte und Anstand erscheinen zu müssen, auch und gerade, wo sie solches Vertrauen nicht verdienen, macht ihre Rolle so besonders widerwärtig.

Newman hat seinem Stück ein Motto vorangestellt, das den bekannten Spruch ‘Politik verdirbt den Charakter’ variiert und auf die damit verbundenen Gefahren anspielt: “Wenn man gezwungen ist, ein Leben der permanenten, systematischen Doppelzüngigkeit zu leben, vor dem Verhaßten auf dem Boden zu kriechen und das, was nur Unglück bringt, zu bejubeln, kann das Urteilsvermögen davon nicht unberührt bleiben”.

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