die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1986
Text # 328
Kulturpolitik
Sendeinfo 1986.02.10/BR/ORF Wien 1986.02.13/SWF Kultur aktuell/SFB 1986.02.28/WDR/Nachdruck: Darmstädter Echo

Was sich noch immer anhört wie ein schlechter Aprilscherz – nach dem 31. März, also in wenigen Wochen, wird das Unfaßbare wahr: die von der britischen Regierung beschlossene und gegen heftigen Widerstand selbst aus konservativen Kreisen im vergangenen Jahr vom Parlament sanktionierte Auflösung des Greater London Council tritt in Kraft und die Siebenillionenstadt London wird keine demokratisch gewählte zentrale Stadtregierung mehr haben. Die Aufgaben der seit dem frühen 19. Jahrhundert bestehenden und seit 1889 alle vier Jahre gewählten zentralen städtischen Regierung sollen den 33 Londoner Gemeindebezirken und zahllosen neuen, von staatlichen Ministerien ernannten Komitees und Verwaltungsstellen, also nicht direkt gewählten Körperschaften, übertragen werden.

Begründet wird die bisher wohl einzigartige Maßnahme mit Vereinfachung des Verwaltungsapparates und Kostenersparnissen in Höhe von 50 Millionen Pfund. Kalkulationen unabhängiger Finanzexperten deuten indessen daraufhin, daß die erhofften Einsparungen wesentlich niedriger sein werden, dafür die mit der Umstellung verbundenen Kosten vier- bis fünfmal höher als die zu erwartenden Gewinne. Auch von einer Vereinfachung der hauptstädtischen Verwaltung könne keine Rede sein; im Gegenteil, die Übertragung der Aufgaben des Greater London Council auf fünf Ministerien und insgesamt 192 neue Verwaltungsstellen müsse zu einem bürokratischen Chaos führen.

Umfragen haben ergeben, daß fast drei Viertel der Londoner Bevölkerung gegen die Abschaffung des gewählten Stadtrates sind, weil ihnen dadurch die Mitbestimmung in wichtigen städtischen Angelegenheiten entzogen wird, während die jeweils herrschende Regierung in Whitehall nach eigenem Gutdünken – wie jetzt im Fall der Beseitigung des Greater London Council – auch gegen den Willen der Bevölkerung parteipolitische Interessen durchsetzen kann. Denn daß es hier um die Durchsetzung parteipolitischer Interessen geht, um den Ausbau konservativer Machtpositionen im großstädtischen Bereich, wo in den letzten Jahren die sozialdemokratische Politik der Labour-Partei das Sagen hatte, darüber sind sich die Leute in London und den sechs anderen Städten, über die das gleiche Schicksal verhängt worden ist, weitgehend einig. Man ist davon überzeugt, daß die Abschaffung des Greater London Council für viele Bereiche verheerende Folgen haben wird. Dies gilt vor allem für die Fragen der städtischen Verkehrspolitik, für Arbeitslosen- und Umweltprobleme und für die verdienstvollen Bemühungen um die praktische Gleichstellung der Frau und den Schutz von Minoritätengruppen.

Es gilt in besonderem Maße auch für die Künste, die “ein neues dunkles Zeitalter“ heraufziehen sehen, weil viele kulturellen Einrichtungen auf die städtischen Zuschüsse angewiesen sind, die britische Regierung jedoch dem für die Vergabe staatlicher Subventionen zuständigen Arts Council zehn Millionen Pfund weniger zugestanden hat, als nötig wären, um die finanziellen Löcher zu stopfen. Fast vierhundert kulturellen Organisationen droht so der Untergang. Dazu gehören Theater, Musik- und Tanztruppen, Kunstgalerien und Ausstellungszentren, Festspieloorganisationen, Film- und Fotoarchive und Projekte zur Förderung von Literatur und Dichtung.

Auch das dreihundert Jahre alte Sadler’s Wells Theatre, eines der theaterhistorisch bedeutendsten Bühnenhäuser der Stadt und international bekanntes Zentrum des Tanz- und Musiktheaters, gab Ende Januar bekannt, es müsse am 17. Mai die Arbeit einstellen, weil der Arts Council sich weigere, den durch die Auflösung des GLC entstandenen Fehlbetrag von etwa 900.000 Mark zu begleichen. Alan Wood, Verwaltungschef des Sadler’s Wells, nannte die Auflösung des Londoner Stadtrates und die Folgen für die Künste schlicht katastrophal:

“Das Ganze war schlecht durchdacht, eine Wahlmasche der konservativen Partei, die in die Grundsatzerklärung einging, doch nicht zu Ende gedacht worden war und deshalb übereilt und verworren wirkt. Viele gute Leute, die hier in London vorzügliche Arbeit leisten, sind ratlos und verzweifelt. Wir beim Sadler’s Wells sind noch einigermaßen gut dran, weil wir einen großen Namen haben, man auf uns hört und uns unterstützt, wenn es draufankommt. Bei den Kleinen ist das anders; sie wissen sich einfach keinen Ausweg”.

Wood hatte die Situation richtig eingeschätzt: Für das Sadler’s Wells, die Institution mit dem großen Namen, bahnt sich inzwischen eine Lösung an. Die übrigen beißen die Hunde.

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