die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 116
Autor Barrie Keeffe
Theater
Titel Frozen Assets
Ensemble/Spielort Royal Shakespeare Company/Warehouse Theatre/London
Inszenierung/Regie Barry Kyle
Uraufführung
Sendeinfo 1978/01.17/SWF Kultur aktuell/DLF/ORF Wien

Barrie Keeffe, die jüngste Entdeckung unter den englischen Bühnendichtern, bleibt im Gespräch. Nach dem wirklich sensationellen Erfolg seines Stückes ‘Gimme Shelter’, das 1976 in dem Londoner Kellertheater Soho Poly heraus kam, dann ins Royal Court Theatre übernommen und in einer Fernsehaufzeichnung weithin bekannt gemacht wurde, folgte im vergangenen Jahr die nach klassischen Vorbildern geschneiderte Farce ‘A Mad World, My Masters’. Die englischen Kritiker reagierten mit mehr oder minder überschwenglicher Begeisterung.

Das soeben von der Royal Shakespeare Company unter dem Titel ‘Frozen Assets’ (Eingefrorene Guthaben) uraufgeführte neue Stück des jungen Autors schließt thematisch an ‘Gimme Shelter’ an. Wieder geht es um das Schicksal eines Jungen, mit dem die Gesellschaft nichts anzufangen weiß und der mit dem Ruf “Einer muß mir doch helfen!” Amok läuft. Doch während in ‘Gimme Shelter’ wütende Verzweiflung über erlittenes Unrecht sich aggressiv entlädt, befindet sich Buddy, der aus dem Erziehungsheim ausgebrochene 17-jährige Junge in ‘Frozen Assets’, bis zum Ende des Stückes auf der Flucht.

Buddy, der wegen mehrerer Autodiebstähle unter Arrest stand, hat einen Wärter erschlagen. Es war ein Unfall, aber die Indizien sprechen gegen ihn. Aus Angst ist er davongelaufen. Er flieht zu denen, die er kennt, doch keiner kann oder will ihm helfen. Seine Tante weist ihn zurück, ein Priester rät, sich der Polizei zu stellen, sein Schwager will die erfolgreiche Einbrecherkarriere, in der er es eines Tages zu einer Villa in Teneriffa bringen möchte, nicht durch die Mordgeschichte eines anderen gefährden.

Buddy landet schließlich bei einem als Wohltäter bekannten Labour-Lord, der ihn zu einer englischen Weihnachts-Party bei einem Parteifreund mitnimmt, ihm zu einer zahnärztlichen Notoperation verhilft, doch für seine menschenfreundlichen Gesten mit handfesten Zärtlichkeiten belohnt werden möchte. Buddy erkennt, daß seine eigenen Taten nichts sind gegen die Vergehen anderer, die ungestraft auf Kosten der Allgemeinheit ein gutes Leben führen.

Keeffes Stück besteht aus kurzen episodischen Szenen, die wie Stationen einer pikaresken Wanderung erscheinen. Der Junge mit dem Charme des echten Eastenders und der großen Leidenschaft für Automobile ist eines der harmlosen Opfer, denen gegenüber die Gesellschaft der anständigen Menschen, deren Untaten wir nicht so leicht auf die Schliche kommen, kein Pardon kennt.

“Frozen Assets’ wirkt, wie einer der Londoner Kritiker treffend bemerkte, wie ein “modernes Moralitätenspiel”. Regisseur Barry Kyle sorgte für eine spannende, vergnügliche und zuweilen ergreifende Inszenierung.

Wie trotz der über Barrie Keeffes dramatischem Talent bisher publizierten Begeisterung im Falle eines Autors, der so resolut gegen das bürgerliche Establishment vom Leder zieht, nicht anders zu erwarten, beginnen sich inzwischen die kritischen Geister zu scheiden. Je nach politischer Couleur sprechen die Londoner Rezensenten von einem “neuen Meilenstein” in der Entwicklung einer wahren künstlerischen Begabung, von “Keeffes theatralischer Vitalität” oder von “schwerfälliger Parodie auf Kleinverbrechertum”.

Ich selbst neige dazu, Keeffes Stück als eine Art trauriges Weihnachtsmärchen zu verstehen, eine Geschichte, die wir wegen ihrer unglaublichen Zufälle und ihrer leicht ins Groteske überzeichneten Charaktere uns nicht als naturalistische Spiegelung der Wirklichkeit vorstellen sollten, sondern als Ausdruck der Erfahrung ihrer korrupten Verfassung, als ein Theaterstück mit einer Moral, ein Spiel, das uns nachdenklich stimmen will.

Nach Oben